K.o. in Runde elf:Die Faust des Unermüdlichen

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Beide Kontrahenten gehen zu Boden, der Ausgang ist lange offen - bis Klitschko in den Seilen hängt. Der Abend in der Rundenkritik.

Von Saskia Aleythe

Es ist London, es ist April - und am Ende blieb es tatsächlich trocken im Wembley-Stadion. Was für die Begeisterung der 90 000 Zuschauer vermutlich nicht sonderlich ausschlaggebend war, sie hätten auch durchnässt ihren neuen Sporthelden gefeiert: Elf Runden musste Anthony Joshua gehen, um Wladimir Klitschko zu bezwingen und seinen WM-Titel zu verteidigen. Der Ukrainer lag drei Mal am Ringboden, aber auch Joshua musste einen schweren Niederschlag verkraften. Der Abend in der Rundenkritik.

Vor dem Kampf

Lächeln und Posieren, Lächeln und Posieren und am dritten Tag nochmal: Lächeln und Posieren. Anthony Joshua ist seit Mittwochmittag intensiv damit beschäftigt, sich der Öffentlichkeit in London zu präsentieren. Er tat das mit jenem Charme, für den ihn das Land ohnehin schon liebt. Wladimir Klitschko fiel das Lächeln meist ein bisschen schwerer, ihn liebt das Land nicht, aber vor allem ist er mit gewichtiger Mission nach England gekommen: Wieder Weltmeister werden, nachdem ihn vor fast 18 Monaten ein anderer Brite entthront hatte: Tyson Fury.

Das Boxen ist nun ein anderes: Ganz ohne Rüpel- und Trash-Talk auskommend, erlebte man in den Wochen und letzten Tage vor dem Aufeinandertreffen die beiden Sportler. Der Kampf ließ sich trotzdem verkaufen: 90 000 Zuschauer sind ins Wembley-Stadion gekommen und wollen wissen, wie es denn nun weitergeht. Wird Anthony Joshua der neue Boxheld? Kommt Wladimir Klitschko noch einmal zurück? Und vor allem: Bleibt es trocken auf den Rängen? Dort, wo sonst Fußballerbeine über den Rasen grätschen, sind nun Tausende Plätze um den Ring aufgebaut, um die Hütte vollzubekommen. Die Open-Air-Hütte wohlgemerkt.

Beim Wiegen am Tag vor dem Kampf posieren Joshua und Klitschko im Wembley-Stadion. (Foto: Matt Dunham/AP)

Gegenüberstellung der Boxer

Auf den ersten Blick wirkt die Sache ziemlich geschickt eingefädelt und vorteilhaft für beide Seiten: Klitschko trifft in Anthony Joshua auf einen Gegner, gegen den man verlieren kann, ohne den Mythos einer Schwergewichtsikone dabei einzubüßen. 2014 holte sich der Ukrainer Joshua in sein Trainingslager als Sparringspartner, der junge Mann hat sich gleich jede Menge abgeschaut und ähnelt nun auch im Boxstil seinem Vorbild. "Ich hasse Klitschko nicht, ich will sein wie er", sagte Joshua nach dem Wiegen höchst respektvoll, auch Klitschko verteilte fleißig Komplimente.

Beide sind 1,98 Meter groß, Linksausleger, Joshuas Reichweite ist die Winzigkeit von zwei Zentimetern größer. Beim Wiegen war der Brite mit 113,4 kg eine ordentliche Portion schwerer als Klitschko mit 109,1 kg - ob er dadurch Vor- oder Nachteile hat, wurde in diversen britischen Wettstuben vor dem Kapf eifrig diskutiert.

Neben dem Ring

Michael Buffer dehnt noch einmal kurz die Stimmbänder, den Ringsprecher gibt es ja immer noch und er ist der Überlieferung zufolge 72 Jahre alt - was ihn nicht davon abhält, sein besonderes Talent ins Stadionmikrofon zu übertragen. Vokale laaaaaaaaang ziehen, das R möglichst schön rrrrrrrrrollen, das kann er wie kein Zweiter. Und womöglich ist er auch der einzige 72-Jährige, der twittert.

Arnold Schwarzenegger hat sich ins Publikum gemischt, und auch sonst sind vermutlich alle bis auf die Queen im Stadion erschienen. Wobei, bei ihr weiß man ja nie.

Einmarsch der Boxer

Es ist schon verwunderlich, warum die Red Hot Chili Peppers Klitschko noch keinen Song geschrieben haben. Schließlich läuft ihr "Can't stop" nun schon seit Jahren als Einmarschmusik vor dessen Kämpfen. Der 41-Jährige wird ins Stadion geleitet, er hat zur Abwechslung mal einen schwarzen Bademantel übergezogen, dazu sein Kampf-Mantra als Aufdruck: "Obsessed". Die Menge buht und versucht, Anthony-Joshua-Sprechchöre über seinen Walk zu legen. Klitschko macht, was er erwiesenermaßen sehr gut kann: stur gerade ausschauen, als wäre sein Gesicht gerade eingefroren. Er kommt in den Ring und dreht Runden, als bekäme er zusätzlich zur Kampfbörse auch noch Kilometergeld.

Während Klitschko spaziert, öffnen sich auch für Joshua die Tore zum triumphalen Einmarsch: 90 000 Zuschauer strecken sich - und dabei zugleich 90 000 Smartphones - in die Höhe. Der Brite hat sich in ein weißes Mäntelchen gehüllt, läuft, bleibt stehen, dann schießen Feuerwerkseffekte in die Höhe. Neben ihm leuchten seine Initialen, die gleichzeitig sein Kampfname sind: A.J.. Er fährt auf einer Bühne nach oben und darf den Moment genießen: Zu Seven Nation Army skandiert die Menge seinen Namen, AJ lässt passend zur Choreographie die Arme durch die Gegend fliegen. Taktgefühl noch ausbaufähig.

Zum Einmarsch von Anthony Joshua regnet es jede Menge Feuer. (Foto: Richard Heathcote/Getty Images)

Vorstellung der Boxer durch den Ringsprecher

Das Singen der Hymnen ist an diesem Abend natürlich eine höchst emotionale Angelegenheit. Die ukrainische singt Natalja Klitschko, die Ehegattin von Wladimirs Bruder Vitali. Die Zuschauer gönnen der Klitschko-Familie den Moment. Oder müssen noch ihr Bier leer kriegen, schließlich grölen sie dann selber "God save the Queen" mit, gesungen von der britischen Castingshow-Gewinnerin Louisa. Dann darf Buffer nochmal ran, liest sämtliche Titel Wladimirs von der Medaille im Schuldebattierclub bis zum Führerschein vor, Joshuas Vorstellung wird erneut von Sprechchören begleitet. Singen können sie hier auch vier Stunden nach dem ersten Pint noch.

Runde 1

Flotte Bewegungen, Vorgependel, Zurückgependel - es geht zackig los im Ring. Joshua schaut wie ein scheues Reh, eine clevere Ablenkung von seinen Fäusten: Der Brite gibt hier erstmal das Tempo vor, was sich bei seiner Jugendlichkeit als gute Taktitk entpuppen könnte.

Runde 2

Klitschko kann seinen Jab nicht ins Ziel bringen, vor allem defensiv hat Joshua ziemlich gute Augen und noch flinkere Arme. Er lässt Klitschko erstmal machen, was nicht unbedingt viel ist.

Runde 3

Klitschko scheint angefressen zu sein, dass er hier noch kein Mittel findet, dem Briten näher zu kommen und marschiert mit ein paar flinken Händen in Richtung des Gegners. Joshua zeigt, was sein Vorteil in diesem Duell sein könnte: variablere Schläge. Er holt mal von unten aus, mal von hinten, Klitschko entkommt, allerdings mehr glücklich als geplant.

Runde 4

Raketenartig umschreibt es wohl am besten, was Klitschko hier macht: Er schießt aus der Ringecke zu seinem Gegner, kann ihm aber nicht wehtun. Anders Joshua: Er landet eine Rechte wie ein Raketenpiloten-Musterschüler - erstmals platziert er sie direkt im Gesicht von Klitschko.

Zu Beginn beharken sich die Kontrahenten gleichermaßen. (Foto: Richard Heathcote/Getty Images)

Runde 5

Erst zweimal musste Joshua in seiner Karriere in die siebte Runde gehen: Das hat er hier definitiv nicht vor. Er macht, was man als junger, leidenschaftlicher Boxer tut: Boxen. Klitschko muss von allen Seiten einstecken, linke Aufwärtshaken, rechte Geraden - Joshua geht sofort in den Infight und bringt den Ukrainer tatsächlich zu Fall. Das ist dem 41-Jährigen seit Jahren nicht mehr passiert. Klitschko blutet am rechten Auge, steht auf und lässt sich wieder ein auf den Kampf, und das mit recht beeindruckender Moral: Plötzlich scheucht er seinen jungen Wiedersacher und malträtiert ihn mit seinem Jab. Der Brite ist froh, als die Ringglocke schrillt und schaut Klitschko beeindruckt hinterher.

Runde 6

Zwei Untote im Ring: Klitschko schickt Joshua mit einer heftigen Rechten auf den Ringboden, wo der sich erstmal sammeln muss. Nun könnte und müsste der Ukrainer nachsetzen. Aber dann merkt man, dass beide eigentlich stehend K.o. sind. Joshua wirkt vom Niederschlag noch benommen und lässt sich in die Seile schleudern. Wie lange hält er noch durch?

Runde 7

Immerhin: Der Brite kann noch lächeln. Klitschko vertraut wieder seinem bewährten Jab, es bleibt aber zunächst bei ein paar Stubsern. Aktive Regeneration nennt man das in Fachkreisen. "Come on", ruft Joshua und hofft auf einen schludrigen Angriff, um stärker kontern zu können. Klitschko tut ihm den Gefallen nicht.

Runde 8

Premierenrunde für Joshua: So lange musste der 27-Jährige in 18 Profikämpfen noch nie im Ring stehen. Wer hier gewinnt, ist zum jetzigen Zeitpunkt völlig offen. Es wird viel gezappelt, Klitschko schwingt über den Jüngling mit seinen Angriffen hinweg, weil der sich geschickt wegduckt. Doch im Angriffsmodus befindet sich der Brite nicht mehr - es tat eben doch weh, da unten auf dem Ringboden. Am Ende kann er Klitschko doch noch einen Jab mitgeben.

Mehrmals geht Wladimir Klitschko während des Kampfes zu Boden. (Foto: Axel Heimken/dpa)

Runde 9

In Beziehungen würde man sagen: Sie haben sich auseinandergelebt. Klitschko und Joshua geben sich hier jede Menge Freiraum, was beim Boxen eher wenig Punkte bringt. Gut, es wird zwischendurch auch geklammert, doch das bringt natürlich nichts ein. Joshua stubst Klitschko zweimal an, kurz vor der Glocke muss er jedoch selber einen Jab einstecken.

Runde 10

Joshua schnauft und guckt verkniffen: Nach neun Runden gegen Wladimir Klitschko ging es anderen da schon viel übler. Klitschko bringt seinen Jab unter, Joshua aber bleibt unbeeindruckt. Die Prognose ist nicht schwer: Wenn er seinen Aufwärtshaken einmal ins Ziel bringen würde, wäre das für Klitschko sehr, sehr schmerzhaft. Doch noch kann der Ukrainer ausweichen und schlägt am Ende einen weiteren Jab ans Kinn seines Gegners.

Runde 11

Nach einem Powernap in der Pause springt Joshua angriffslustig auf seinen Gegner zu. Eine wuchtige Rechte landet in Klitschkos Gesicht. Der 41-Jährige darf noch einmal verschnaufen, dann kommen bittere, schmerzhafte Sekunden. Und es ist - natürlich - der Aufwärtshaken, der einschlägt, Joshua lässt mehrere Hiebe folgen, Klitschko geht zu Boden und wird angezählt. Aber er will es wirklich wissen und steht nochmal auf, lässt sich jedoch mit einer Links-Rechts-Kombination erneut zu Boden schlagen - und steht wieder auf. Er hängt längst in den Seilen, als Joshua seine Faust unermüdlich in das Gesicht des Ukrainers bohrt und der Ringrichter den Kampf schließlich abbricht - der technische K.o. ist perfekt.

Anthony Joshua bejubelt seinen Sieg vor heimischer Kulisse. (Foto: Andrew Couldridge/Reuters)

Nach dem Kampf

Joshua zieht sich selber in die Seile zurück, für einen Moment scheint er vor Erschöpfung, Ungläubigkeit oder Freude in Tränen ausbrechen zu wollen. Klitschko wankt in seine Ecke, Joshua hüpft auf die Seile, die Menge skandiert seinen Namen. Dann folgen lange Momente, Klitschkos Ecke scheint mit dem Abbruch unzufrieden zu sein. Was am Ende aber nichts daran ändert: Anthony Joshua ist auch in seinem 19. Profikampf ungeschlagen - und Wladimir Klitschko ist das Comeback misslungen. "Ich bin nicht perfekt, aber ich versuche und gebe alles", sagt Joshua in seinem ersten Interview, er steht noch im Ring. Er fordert die Menge auf, Respekt für seinen Gegner zu haben, tatsächlich gibt es so etwas für Applaus für den Ukrainer. "Ich habe nur Liebe und Respekt für alle, die im Ring stehen", sagt Joshua und bietet sogleich einen Rückkampf an. "Boxen ist Charakter", sagt er noch.

Dann darf auch Klitschko ans Mikrofon und gibt sich als anständiger Verlierer, bedankt sich trotz vieler Buhrufe an diesem Abend beim Publikum, das sogleich applaudiert. Das ist nun fast eine Aussöhnung, die der Abend aber genauso so verdient hat. Klitschko hat sich leidenschaftlich gegen die Niederlage gewehrt - doch die Zukunft seines Sports liegt eben bei Anthony Joshua. Was Klitschko übrigens genau in diesen Worten schon vor drei Jahren prophezeit hat.

© SZ vom 30.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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