Jubiläum:Der Geheimpakt von Tokio

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Wie sich die Trainergranden Cruyff und Santana beim Weltpokalfinale 1992 auf einen reinen Fußball verständigten.

Von Javier Cáceres

Juan Carlos Loustau, 70, saß gerade in Buenos Aires vor seinem Laptop und las die Geschichte, um die seine Erinnerung kreiste und die von der Nachrichtenagentur Efe veröffentlicht worden war, als ihm seine Frau den Hörer reichte: "Jetzt rufen sie sogar aus Deutschland an!" Loustau, früherer argentinischer Weltklasse-Schiedsrichter, hatte zuvor aus Anlass des 25. Jubiläums des Fußball-Weltpokalfinales von Tokio - zwischen dem FC Barcelona und dem FC São Paulo - das Geheimnis um einen Pakt gelüftet, den zwei Hohepriester des schönen Spiels damals geschlossen hatten: der Niederländer Johan Cruyff und der Brasilianer Telê Santana, die Trainer der damaligen Finalgegner.

Dieser Pakt sollte sicherstellen, dass in jenem Finale die heilige Essenz des Fußballs geehrt würde.

"Sie sprachen vom Fußball wie von etwas Höherem, mit religiöser Ehrfurcht", erzählt Loustau am Telefon. Er sei damals ein paar Tage vor dem Finale, das am 13. Dezember 1992 im Olympiastadion von Tokio stattfand, nach Japan gereist. Und er war, vom Jetlag um den Schlaf gebracht, spazieren gegangen. Die beiden Teams wohnten im selben Hotel wie der Referee, und als er durch die Lobby lief, rief ihn Santana herbei. "Er kannte mich, weil ich in Südamerika viele internationale Spiele geleitet hatte, Copa Libertadores, Copa América, WM-Qualifikation", so Loustau: ",Komm, ich stelle dir Cruyff vor', sagte Santana."

Verfechter der reinen und schönen Lehre vom Fußball: der Brasilianer Telê Santana. (Foto: Imago Sportfotodienst)

Danach saßen sie zu dritt beisammen und tranken so viel Kaffee, dass Loustau später nicht richtig schlafen konnte, was ihm aber nichts mehr ausmachte. Denn er war Zeuge einer Unterredung geworden, die er bis heute als eine Art Offenbarung empfindet.

"Santana und Cruyff hatten ähnliche Ideen vom Fußball. Sie kreisten darum, dass man den Gegner mit Geschwindigkeit und Präzision überwinden musste, dass es keinen Sinn hat, den Ball blind in den Strafraum zu flanken, solche Dinge. Vor allem aber fußten sie darauf, dass man dem Spiel gegenüber loyal sein musste", erzählt Loustau. Was das heißt?

Zum Beispiel, dass es kein Gutes im Falschen gibt, dass nicht alle Mittel recht sind, und dass es im Fußball kein Scheitern gibt, wenn man gut spielt. Beide, Cruyff und Santana, waren anerkannt prägende Figuren, in Tokio etwa waren sie Gegner, weil ihre Teams die jeweiligen Kontinental-Klubwettbewerbe gewonnen hatten. Aber ihre wahre Gemeinsamkeit war: Sie hatten Niederlagen erlitten, derer sie sich nie schämen mussten. Cruyff war der Kapitän der niederländischen Nationalelf, die bei der WM 1974 in Deutschland den Fußball revolutionierte, aber im Finale Deutschland 1:2 unterlag. Santana war der Trainer jenes mythischen brasilianischen Teams um Sócrates, Zico und Falcão, das bei der WM 1982 in Spanien die Welt verzauberte, aber in der zweiten Runde am späteren Weltmeister Italien scheiterte (2:3). Das Gespräch zwischen Cruyff und Santana wurde mit einem Handschlag beendet, in den auch Loustau eingebunden wurde: Wenn einer ihrer Spieler Zeit schinden, eine Verletzung simulieren, den Ball wegschlagen, kurz: den Fußball besudeln sollte, dann würden sie ihn sofort auswechseln, gelobten die Trainer.

Einsamer Zeuge des Treffens: Referee Loustau, den Faßbender "in die Pampa" schicken wollte

Dass Bakero und Begiristain vom FC Barcelona und Cerezo vom FC São Paulo ausgetauscht wurden, lag aber nicht an Illoyalitäten. Im Gegenteil. Tokio erlebte ein spektakuläres Finale, in dem sich Barça-Stars wie Guardiola, Laudrup oder Koeman mit Müller, Cerezo oder Cafú duellierten. São Paulo siegte 2:1. "Es war kein Zufall, dass Stoitschkow für Barcelona und (São Paulos zweifacher Torschütze, d. Red.) Raí jeweils in den Winkel trafen", sagt Loustau, der letzte Überlebende jenes Pakts: Cruyff starb 2016, Santana bereits 2006.

Der Niederländer Johan Cruyff. (Foto: imago/Agencia EFE)

Loustau erinnert sich schwärmerisch: "Was ich in den Gesichtern von Cruyff und Santana sah, war die Zufriedenheit, die Väter empfinden, wenn ihre Kinder ausfliegen und genau das machen, was man ihnen mit auf den Weg gegeben hat. Und ich empfand große Dankbarkeit. Unter anderem, weil sie mich lehrten, dass man als Schiedsrichter erst das Spiel und dann erst die Regeln lernen muss."

Loustau übrigens war auch der Referee im legendären WM-Spiel 1990, in dem der Niederländer Frank Rijkaard dem DFB-Stürmer Rudi Völler in die Locken spuckte und am Ende beide vom Platz flogen. "Das Einzige, was ich heute bedaure, ist, dass ich keine Ahnung hatte, welche Konflikte es zwischen den Spielern beider Länder gab, die damals in Italien spielten. Aber damals hatte man nicht die Medien, die man heute hat", sagt Loustau. Dass ihn der deutsche TV-Kommentator Heribert Faßbender chauvinistisch "zurück in die Pampa!" wünschte, hörte Loustau jetzt übrigens zum ersten Mal. Loustau ertrug es mit Langmut: "Im Vergleich zu anderen Dingen, die ein Schiedsrichter zu hören bekommt, ist das unbedeutend."

© SZ vom 14.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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