Jan Ullrich:Mit geschwächter Leibgarde ins Hochgebirge

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Während Favorit Armstrong auf alle seine Helfer bauen kann, geht der Kapitän des T-Mobile-Teams die Entscheidung mit dezimierter Mannschaft an.

Von Andreas Burkert

Die schlechte Nachricht erreichte Walter Godefroot auf der Sonnenterrasse des Teamquartiers in Le Lioran, und in diesem Moment starrte er sorgenvoll auf den Steinboden.

In den Bergen kann llrich nur auf vier Helfer zurückgreifen. (Foto: Foto: dpa)

Denn das Bulletin zum Patienten Matthias Kessler, 25, fiel mehr als ernüchternd aus, neben einem Rippenbruch entdeckten die Ärzte, dass seine rechte Lungenhälfte kollabiert war nach seinem Rennunfall - eingefallen wie ein Zelt ohne Stangen.

Der Nürnberger Radprofi war auf der schnellen Abfahrt vom Pas de Peyrol in einer Kurve auf Schotter geraten und kopfüber gegen einen Weidezaun geprallt. "Ich habe die Kontrolle über mein Rad verloren", berichtete Kessler abends betrübt, er wird nun mit dem Krankenwagen zur Uniklinik Freiburg transportiert. Ein Flug wäre zu gefährlich für ihn.

Kessler kapitulierte erst im Spital

Die Tour de France ist für Kessler beendet, bevor sie richtig begonnen hat, und nicht nur Godefroot blickt nun nachdenklich voraus. Jan Ullrich erfuhr nach dem Abendessen von der Verletzung seines Trainingspartners, "und das ist natürlich eine Enttäuschung für ihn gewesen", berichtet sein Betreuer Rudy Pevenage am nächsten Morgen.

"Matthias ist ein Kämpfer mit hundert Prozent Einsatz, er hätte Jan in den Bergen lange unterstützt." Ullrich nannte Kesslers Ausfall "ein Handicap für mich". Seinen Charakter hatte der Franke nach dem Sturz nachgewiesen, als er den Vorschlag seiner Begleiter zur Aufgabe vehement zurückwies.

Er setzte sich aufs Rad und erreichte nach 50 schmerzhaften Kilometern das Ziel innerhalb des Zeitlimits. Kessler kapitulierte erst im Spital. Helfer von Kesslers Kaliber sind rar, und deshalb nähert sich Ullrichs Team geschwächt den Pyrenäen, wo sich die Favoriten diesen Freitag und Samstag erstmals duellieren werden. Denn Ullrich fehlt nicht nur Kessler, wenn heute der Aspin und die Bergstation La Mongie sowie samstags das Plateau de Beille zu bewältigen sind.

Auch vom integren Schwerstarbeiter Rolf Aldag darf er einstweilen keine Dienstleistungen erwarten. "Rolf ist bei 50 Prozent", sagt Godefroot, und auch Teamarzt Lothar Heinrich bestätigt, der zweimal gestürzte Westfale werde wegen einer vermutlich angebrochenen Rippe und Knieschmerzen "in den Pyrenäen keine große Hilfe sein".

Godefroot unzufrieden mit Botero

Was wohl auch vom Kolumbianer Santiago Botero zu befürchten ist, der am Donnerstag 16 Minuten verlor. Während Teamchef Mario Kummer den Einbruch des Tour-Vierten von 2002 damit begründete, zwei Tage Helferarbeit hätten "ihm den Zahn gezogen", sprach Godefroot offen von einem "schlechten Tag, wenn ein Fahrer wie Botero abgehängt wird, kann man nicht zufrieden sein".

Das sind keine günstigen Voraussetzungen für die anstehenden Prüfungen, denn mit Abzug des in der Punktewertung auf Rang zwei vorgestoßenen Sprinters Erik Zabel verbleiben Ullrich nur noch vier Helfer: die Italiener Nardello und Guerini, der nicht unbedingt bergfeste Russe Iwanow sowie Andreas Klöden (der sich allerdings in so prächtiger Verfassung vorstellt, dass er in Saint-Flour dem hinterher verärgerten Kollegen Zabel im Bergsprint Rang zwei verwehrte).

Angesichts der ausgedünnten Leibgarde formuliert Godefroot fürs Wochenende vorsichtig das Ziel, "dass Jan hoffentlich bei Armstrong bleibt und vielleicht mal davongeht, wenn das überhaupt möglich ist". Einen Angriff erwartet man hier ohnehin eher vom Amerikaner.

Dass Armstrong auf der ersten beschwerlichen Steilfahrt attackiert, hat er ja mit Ausnahme des letzten Jahres stets so gehalten. Diesmal indes haben mehrere ihre Ambitionen kundgetan, wie der Baske Iban Mayo, der mit einem Gewinn der heutigen Zieleinfahrt nahe der spanischen Grenze den Frust über den pannenreichen Tourverlauf beseitigen möchte.

Die Chauffeure des Titelverteidigers sind wohlauf

"Die Etappe nach La Mongie inspiriert mich, im Baskenland fühle ich mich zu Hause", sagt der fünf Minuten hinter den Favoriten rangierende Euskaltel-Leader, der auch am Donnerstag ein Malheur zu ertragen hatte: Am Fuße des Peyrol musste er nach einem Defekt einige Kilometer auf das Velo des Kollegen Unai Etxebarria zurückgreifen - dabei stieß er bei jedem Tritt mit seinen Knien gegen den Lenker.

Auch andere haben also ihre Probleme, Roberto Heras etwa muss auf seinen Edelhelfer Angel Vicioso verzichten. Das Knie. Nur Armstrongs Postal-Team steuert unversehrt das Hochgebirge an.

Die Chauffeure des Titelverteidigers sind wohlauf, was auch für Tyler Hamiltons Phonak-Armada gilt und die CSC-Formation um Italiens Hoffnung Ivan Basso: Beide Kapitäne kamen nach der längsten Touretappe mit fünf Hilfskräften in Saint-Flour an.

Im Vergleich zur Konkurrenz erscheint Jan Ullrich damit benachteiligt, denn von der vermeintlich "besten Mannschaft der Welt" (Ullrich im Frühjahr) ist nicht viel übrig geblieben. Sein kasachischer Freund Alexander Winokurow kuriert einen Schlüsselbeinbruch aus, der frühere Giro-Sieger Paolo Savoldelli steigt erst langsam wieder ins Renngeschehen ein. Und der vormalige australische Mountainbike-Weltmeister Cadel Evans grübelt, weshalb man ihn für zu unerfahren hält für die Tour.

Andererseits ist Jan Ullrich 2003 im Bianchi-Trikot ein ziemlich widerstandsfähiger Einzelkämpfer gewesen, auch ohne Beistand auf den Passstraßen. "Am Ende kommt es doch darauf an, dass der Kapitän stark ist", sagt sein Mentor Rudy Pevenage, der Ullrichs Form als "sehr gut" bezeichnet. Ein Eindruck, den übrigens auch Mayo teilt; "Ullrich ist sehr stark, er kann Armstrong sicher folgen."

Heute indes werden alle Mutmaßungen beendet. Das Schauspiel beginnt, und spätestens Samstagabend, glaubt Walter Godefroot, "wissen wir, wer die Tour nicht mehr gewinnen kann". Schlechte Nachrichten möchte er dann nicht verkünden.

© SZ vom 16.07.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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