Jan Ullrich:Der Hoffnungsmacher

Lesezeit: 3 min

Der T-Mobile-Kapitän kämpft sich in der Schweiz zum Sieg und weckt große Hoffnungen für die Tour.

Martin Born

Die Strecke des abschließenden Zeitfahrens führte am Bärengraben vorbei in die historische Berner Altstadt zum Ziel an der Gerechtigkeitsgasse. Dort wachte Justitia, eine der berühmtesten Berner Brunnenfiguren aus dem 16.Jahrhundert, mit verbundenen Augen über die Entscheidung der 70. Tour de Suisse. Das war die Hoffnung von Koldo Gil, dem Spanier im Goldtrikot des Führenden, und von Mauro Gianetti, dessen Manager beim Team Saunier Duval. Vor zwei Jahren hatte Jan Ullrich im Schlusszeitfahren den Luganersee entlang einen Rückstand von 41 Sekunden gegen den Schweizer Saunier-Fahrer Fabian Jeker auf den letzten paar hundert Metern in einen Vorsprung von einer Sekunde verwandelt. Diesmal lag der Deutsche als Dritter 50 Sekunden hinter Gil. Weshalb sollte es, wenn es eine Gerechtigkeit gibt, diesmal nicht umgekehrt sein?

Ist er fit? Ullrich gewinnt die Tour de Suisse. (Foto: Foto: dpa)

Aus Angst wird Mut

Justitia gab alles. Als sich die Entscheidung am späten Sonntagnachmittag anbahnte, bestellte sie bei einem ihrer göttlichen Kollegen ein heftiges Gewitter. "Wir müssen froh sein, dass wir heil ins Ziel gekommen sind", sagte Jan Ullrich, 32, als er die Prüfung überstanden hatte, "auf den Zeitfahrmaschinen, die für den Wind besonders anfällig sind, war es ganz schön gefährlich. Manchmal konnte man das Rad nur noch rollen lassen und musste froh sein, nicht einfach weggeweht zu werden."

Der Sonnenmensch Ullrich mag die Schweiz, obwohl es wärmere Länder geben soll. Die beste Kombination für ihn ist es, wenn der Sommer versehentlich auch in der Schweiz vorbeikommt, wie in der vergangenen Woche bei seinem Lieblingsrennen. Da wird aus dem ängstlichen Fahrer, der bis zur Tour de France eigentlich nur trainieren will, eine Rennmaschine. Und da bremst ihn nicht einmal ein Gewitterregen. Obwohl die 30,7 km lange Strecke zwischen Kerzers und Bern mit ihren zwei schweren Aufstiegen auch den Bergfahrern eine Chance ließ, hatte Gil keine Chance. Ullrich war unwiderstehlich und machte aus dem Rückstand von 50 Sekunden einen Vorsprung von 24. Er überrollte auch seinen Landsmann aus dem Team Würth, Jörg Jaksche, der vor dem Schlusstag noch 20 Sekunden vor ihm gelegen hatte. "Ich freue mich riesig über diesen Sieg", sagte Ullrich, der großes Lob von Teammanager Olaf Ludwig empfing: "Jan ist topfit, das hat er hier unter Beweis gestellt."

Jan Ullrich als Sieger ist das Beste, was der Tour de Suisse passieren konnte. Es wertet ein Rennen auf, das immer mehr unter seiner Sandwich-Position zwischen Giro und Tour de France leidet und seine Rolle als Tour de France-Hauptprobe an die Dauphiné-Rundfahrt verloren hat. Cadel Evans war neben Ullrich der einzige Podest-Anwärter von Paris, der vor neun Tagen in Baden an den Start ging. Er war im Zeitfahren auch der Gradmesser. Der Australier, der noch vor dem großen Regen ins Ziel kam und am Ende Gesamtzehnter, verlor 23 Sekunden. Bei gleichen Bedingungen wären es viel mehr gewesen. Welchen Wert hat Jan Ullrichs "Heimsieg", wenn Tour-Favoriten wie Ivan Basso (fuhr und gewann den Giro) und Alexander Winokurow oder Podest-Anwärter wie Alejandro Valverde, Floyd Landis, Levi Leipheimer (Sieger der Dauphiné), Francisco Mancebo, George Hincapie oder Jaroslaw Popowitsch die Schweiz meiden?

Als Ullrich vor zwei Jahren die Tour de Suisse erstmals gewann, setzte er sich im abschließenden Zeitfahren gegen den Veteranen Jeker, dem letzten "Überlebenden" (neben Beat Zberg) der großen Schweizer Generation der neunziger Jahre durch. Diesmal forderten ihn die Spanier von Saunier Duval (Koldo Gil, Gomez Marchante) und Würth (der Ansbacher Jaksche, Vicioso, Contador). Das sind keine Bassos und Winokurows, keine potenziellen Tour de France-Sieger, und deshalb ist die wichtigste Frage kaum zu beantworten: Kann Jan Ullrich nach neun Jahren zum zweiten Mal die Tour gewinnen? Ist er so stark wie noch nie, wie die Optimisten glauben?

"Erst bei 90 Prozent"

Das war er in deren Augen schon in den letzten beiden Jahren, und beide Male lief es in Frankreich schief. Die stärkste große Tour fuhr er 2003, als er in der Schweiz nur langsam in Schwung kam und Siebter wurde. Ist er also, zwei Wochen vor dem Start in Straßburg, schon zu gut in Form? Eine Antwort darauf gibt es nicht. Die Rückschläge der letzten beiden Jahre hatten nichts mit der Schweiz zu tun: 2004 war er in der ersten Woche krank, angesteckt von der neugeborenen Tochter, 2005 flog er am Tag vor dem Prolog durch die Heckscheibe seines Mannschaftswagens. Diesmal sagt Rudy Pevenage, sein Teamchef: "Ein kleines bisschen fehlt noch, aber er hat in der ersten Tourwoche ja auch noch die Gelegenheit, sich zu steigern." Jan Ullrich äußerte, er habe "hier erst 90 Prozent meines Leistungsvermögens abgerufen". Er hat jetzt nur noch einen Wunsch: "Ich möchte gesund in die Tour gehen." Martin Born

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: