Italien:Die Angler sollen den Calcio retten

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Der Manipulationsskandal, Tottis Beinbruch und ein Eigentor: Mit Verdrängungskunst hat es Italien ins Endspiel geschafft.

Ulrich Hartmann

Hinter dem "Landhaus Milser" in Duisburg-Huckingen liegt ein See. In dem See schwimmen Fische, und an seinem Ufer haben zuletzt oft Männer gesessen und geangelt. Wenn sie einen Fisch aus dem Wasser gezogen hatten, warfen sie ihn wieder hinein. Sie haben keinen Fisch gebraucht. Sie sind zum Fußballspielen nach Deutschland gekommen.

Am See haben sie nur gesessen, weil sie zwischendurch Zeit hatten. Am Montag fliegen die Männer wieder heim, und wenn sie Glück haben, dann werden sie dort von den Menschen bejubelt. Die Angler wollen am Sonntag Weltmeister werden. Sie sind aus Italien. Dort wird nächste Woche die Hölle los sein. Und im Duisburger Süden kehrt wieder Ruhe ein.

In Italien herrschen unruhige Zeiten. In Duisburg herrschte der Geist von Huckingen. Man muss das so formulieren im typischen Jargon des Turnierfußballs, denn typisch war auch der Turnierverlauf für einen Mitfavoriten, dem es nicht leicht gemacht wurde.

Die Italiener waren voller Sorgen angereist: Vier Monate vor der WM hatte sich Spielmacher Francesco Totti das Wadenbein gebrochen, kurz vor dem Viertelfinale wurde in Rom der Prozess im Manipulationsskandal eröffnet, kurz vor dem Halbfinale wurde den Vereinen von 13 der 23 Nationalspieler der Zwangsabstieg angedroht, und dann sprang aus einem Fenster in Turin auch noch der depressive Juventus-Manager Pessotto, mit dem etliche Spieler befreundet sind.

Trotz und Trost

Eine Mannschaft kann kaum unter schlechteren Umständen bei einer WM mitspielen, aber es muss auch mit diesen Problemen zu tun gehabt haben, dass sie so weit gekommen ist. Trotz und Trost, Anteilnahme und Aufbruchstimmung - es war eine Mischung vieler Emotionen, die den Fußballern 1000 Kilometer fern des heimatlichen Zusammenbruchs den Weg gewiesen hat.

Wichtig war natürlich auch, gut ins Turnier zu starten. Die Italiener haben die WM mit einem 4:0 begonnen. Am Eröffnungstag, dem 9. Juni, haben sie die A-Jugend des MSV Duisburg in einem 30-minütigen Spielchen 4:0 geschlagen. "Ein guter Start bei der WM kann für den weiteren Verlauf von entscheidender Bedeutung sein", hat Torwart Gianluigi Buffon gesagt, allerdings erst am Abend des 12. Juni, als die erste Partie 2:0 gegen Ghana gewonnen war.

An jenem Abend hat Andrea Pirlo ein silbernes Kännchen geschenkt bekommen, das sich zum Aufschäumen von Milch für den Cappuccino eignet. Das Kännchen ist eine Auszeichnung des Weltverbands Fifa für den besten Spieler einer Partie.

Sechs Spiele haben die Italiener bis zum Finale bestritten, fünfmal hat ein Italiener das Milchkännchen gewonnen: zweimal Pirlo, je einmal Marco Materazzi, Buffon und Gennaro Gattuso.

Beim 2:0 gegen Ghana hing im italienischen Fanblock ein Tuch, auf dem stand: "Moggi wird uns helfen, den Weltcup zu holen." Das war natürlich reiner Zynismus; denn der Drahtzieher der Manipulationen, Luciano Moggi, hat den Fußball kaputtgemacht.

Die Spieler und der Trainer Marcello Lippi aber haben die nationale Sorge tatsächlich zum Wettbewerbsvorteil stilisiert. "Für Pessotto, für den Calcio, für die Tifosi!", lautet eine Zusammenfassung all jener Widmungen, die die Fußballer im Laufe der Wochen ausgesprochen haben. Und dann half ja auch noch das Schicksal. "Für alles gibt es eine göttliche Bestimmung", sagte Abwehrspieler Materazzi, nachdem er in der 17. Minute des Tschechienspiels für den verletzten Nesta ins Spiel gekommen war und neun Minuten später das 1:0 erzielt hatte.

Göttliche Bestimmung half den Italienern auch beim späten 1:0 im Achtelfinale gegen Australien (95. Minute) und beim noch späteren 2:0 im Halbfinale gegen Deutschland (119. und 121. Minute).

Zehn Italiener haben elf Tore geschossen

Beim 3:0 gegen die Ukraine im Viertelfinale traf Torjäger Luca Toni zweimal. Damit ist er Italiens bester Torschütze dieser WM. Zehn Italiener haben elf Tore geschossen. Zehn unterschiedliche Torschützen bei einer WM hatten zuletzt die Franzosen 1982, damals haben diese Zehn 16 Tore geschossen.

Wenn die Italiener Zaccardos Eigentor beim 1:1 gegen die USA dazu nehmen, dann haben sie sogar elf Torschützen.

Zaccardos Eigentor war der einzige Treffer, den der Torwart Buffon hineingelassen hat. Er ist seither 453 Spielminuten unbezwungen, und wenn er das im Endspiel noch 66 Minuten lang bleibt, dann hat er einen WM-Rekord aufgestellt. Dann wäre er 519 Minuten ohne Gegentor.

Seinem Landsmann Walter Zenga ist das 1990 bei der WM in der Heimat 518 Minuten lang gelungen.

"Ihr seid der Neuanfang!", sagt der Verbandspräsident Guido Rossi demonstrativ zu seinen Fußballern. Die Angler von Huckingen müssen den Calcio retten, und wenn sie am Sonntag einfach so weitermachen wie bisher, dann werden sie am Montag mit dem vierten Weltmeistertitel nach Hause fliegen. Vom Himmel werden sie herunterschweben in ein Fußballland aus Schutt und Asche. So viel Pathos hat der Weltmeister-Titel schon verdient.

© SZ vom 8.7.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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