Italien:Den Titel für Pessotto

Lesezeit: 3 min

Italiens Fußballer können die Sorgen aus der Heimat nicht länger verdrängen und reagieren mit Trotz.

Ulrich Hartmann

Vor der MSV-Arena im Stadtteil Wedau steht ein Eisverkäufer aus einer längst vergangenen Zeit. Er trägt einen weißen Kittel und eine weiße Schiffchenmütze und holt für die Kinder Gelato aus den runden Öffnungen eines großen Kastens, der an einem uralten Moped angebracht wurde.

So stellt man sich eine italienische Idylle vor, und so idyllisch ist Italien dieser Tage vor dem Duisburger Stadion, in dem die italienischen Fußballer für die Dauer der Weltmeisterschaft ihre Heimat gefunden haben. "Casa Azzurri Germania" nennen sie das Stadion vorübergehend, und drinnen gibt es italienischen Espresso auf italienischen Sitzmöbeln vor italienischem Fernsehprogramm.

Der italienische Fußballverband hat sich hier eine Insel der Glückseligkeit geschaffen, 1460 Kilometer fern von Rom und 1000 Kilometer fern von Turin und mindestens die Addition beider Distanzen fern von allen Problemen, die den italienischen Fußball in diesen Tagen erschüttern. Am Dienstag hat sich der neue Juventus-Manager Gianluca Pessotto wohl aus privaten Gründen in Turin vom Dach des Juventus-Klubhauses gestürzt, und am heutigen Donnerstag beginnt in Rom vor dem Sportgericht gegen vier Vereine und 30 Personen der Prozess im Manipulationsskandal um den ehemaligen Juventus-Sportdirektor Luciano Moggi.

Im "Casa Azzurri Germania" weiß man um alle diese Sorgen, aber man versucht, sie zu verdrängen. "Das alles ist für uns hier sekundär", sagt Abwehrspieler Alessandro Nesta betont sachlich. "Wir konzentrieren uns auf unser Viertelfinalspiel gegen die Ukraine am Freitag."

Doch das gelingt nicht. Am Dienstag hatte der Abwehrspieler Fabio Cannavaro in einer Pressekonferenz gesessen, als er von Pessottos Sturz erfuhr. "Entschuldigung, ich muss gehen", sagte er knapp und verschwand mit blassem Gesicht.

Trübe Atmosphäre

Noch in der Nacht auf Mittwoch sind Alessandro del Piero und Gianluca Zambrotta in einem Privatjet nach Turin geflogen, um Pessotto im Krankenhaus zu besuchen. "Die Atmosphäre ist trüb", beschreibt Cannavaro die Stimmung im Duisburger Trainingsquartier, "aber wir werden nun alles geben, um auch für Pessotto den Titel zu holen."

Der erst seit Mai tätige und nicht in den Skandal involvierte Teammanager von Juventus hat mit vielen der Nationalfußballer noch zusammengespielt. "Deshalb sind wir hier alle sehr traurig", sagt Alessandro Nesta.

Mehr Angst als Trauer werden die fünf Nationalspieler von Juventus Turin verspüren, wenn an diesem Donnerstag der Prozess in Rom beginnt. Der Torwart Gianluigi Buffon, die Abwehrspieler Fabio Cannavaro und Gianluca Zambrotta sowie die Mittelfeldspieler Mauro Camoranesi und Alessandro del Piero müssen befürchten, dass ihrem Verein die Lizenz entzogen wird und er aus der Serie A absteigen muss.

Sorge um die Zukunft

Auch diese Gedanken um die Zukunft werden die Leistung des Teams beeinflussen, aber genau wegen all dieser Sorgen will Alessandro Nesta, der 30-jährige Abwehrspieler vom AC Mailand, der eine Adduktorenverletzung auskuriert, derzeit am liebsten bloß über Fußball sprechen.

Über die Ukraine, die am Freitag im Viertelfinale wartet, oder über deren Stürmer Andrej Schewtschenko, mit dem Nesta zuletzt beim AC Mailand zusammengespielt hat. "Alle Probleme in unserer Heimat werden gelöst werden", sagt Nesta, "aber wir hier dürfen erst nach der WM darüber nachdenken, denn diese Probleme sind im Moment nicht so wichtig wie die Weltmeisterschaft."

Die Italiener haben in ihrer Mannschaft ganz andere Probleme zu lösen. Die Leistungen bei der WM gaben bislang keinen Anlass zum Überschwang. "Totti d'Italia!" stand am Mittwoch auf einer der Zeitungen, die die Fernsehreporter lesen, wenn sie nicht gerade vor der Fassade der MSV-Arena live in die Kamera sprechen. "Totti d'Italia" - weil Francesco Totti am Montag in der fünften Minute der Nachspielzeit einen zweifelhaften Elfmeter zum 1:0 gegen Australien verwandelt hat.

Der umstrittene Totti ist gerade mal wieder Italiens Held, aber gegen die Ukraine am Freitag wird es mehr als seiner noch limitierten Fähigkeiten im Mittelfeld bedürfen, um ins Halbfinale einzuziehen.

Marco Materazzi und Daniele De Rossi sind nach ihren roten Karten gesperrt und Alessandro Nesta ist angeschlagen, auch wenn er sich auf einem guten Weg wähnt und seinen Einsatz am Freitag nicht ausschließt.

"Der Arzt hat mir Hoffnung gemacht", sagt Nesta, der es gerne mit Schewtschenko aufnehmen würde. "Auf den muss man 90 Minuten lang aufpassen", sagt Nesta. Und wenn das seine einzige Sorge bliebe bis Freitag, dann wäre er schon froh.

© SZ vom 29.6.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: