Integrations-Sportarten:"Voll inklusiv"

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Glockenspiel: Beim Goalball klingelt das Spielgerät. Die brasilianischen Spieler müssen sich auf ihr Gehör verlassen. (Foto: Ricardo Moraes/Reuters)

Sportarten wie Goalball und Rollstuhlbasketball öffnen sich auch für Menschen ohne Behinderung, es entstehen beispielhafte Projekte. Bei den Paralympics in Rio de Janeiro ist das aber nicht so einfach.

Von Ronny Blaschke, Rio de Janeiro

Wenn Tobias Vestweber über den Bruch in seinem Leben erzählt, dann wirkt er dabei so sachlich, dass es einem fast die Sprache verschlägt. Vestweber verbrachte seine Jugend vor allem mit Sport, er spielte Handball oder warf Bekannte über die Judomatte. Vor gut zehn Jahren, da war er 16, verschwand auf einmal seine Sehkraft, von hundert runter auf zwei Prozent. Die Ärzte sprachen von einer Zapfendystrophie: die Netzhaut verweigerte ihren Dienst auf beiden Augen.

Tobias Vestweber, 25 Jahre alt und Lehramtsstudent, hält sich mit dieser Geschichte nicht lange auf, er betont das Kapitel danach. Vestweber ging auf eine Spezialschule, musste alles neu erlernen und entdeckte einen Sport für sich: Goalball. Dieses Wurfspiel für Sehbehinderte wurde nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt, als Rehasport für Kriegsversehrte, im paralympischen Programm ist es seit 1976. "Es war ungewohnt, sich auf das Hören verlassen zu müssen", sagt er. "Und trotzdem noch einen Ball fangen zu können." Vestweber wurde in seiner Heimatstadt Marburg Jugendmeister, deutscher Meister, Nationalspieler.

Still muss es sein, auch nun auf dem Olympiagelände von Barra da Tijuca, wo seit Mittwoch die Sommer-Paralympics stattfinden. Still, damit die Goalballer die kleinen Glocken im Inneren des Balles hören können. Nur so erahnen sie seine Richtung auf dem Feld und können ein gegnerisches Tor mit ihrem Körper verhindern. Die Spieler haben Sehbeeinträchtigungen mit unterschiedlichen Graden, daher tragen alle lichtundurchlässige Brillen.

Im Sport wächst das Verständnis füreinander

Tobias Vestweber steht in der Regel am Rand und beobachtet konzentriert das Geschehen. In Rio ist er nun als Videoanalyst und Betreuer des deutschen Goalballnationalteams, das seit 2004 erstmals wieder bei den Paralympics dabei ist. Mitspielen darf er nicht mehr, denn seit 2012 kam seine Sehfähigkeit langsam zurück. Die Ärzte wissen nicht genau warum, sie vermuten eine seltene Stoffwechselstörung. Inzwischen braucht er nicht mal mehr eine Brille. Mit dem Begriff Wunder kann er nichts anfangen.

Bei internationalen Wettbewerben wie den Paralympics dürfen Goalballer höchstens eine Sehstärke von zehn Prozent haben. National ist das anders, zum Beispiel in der Bundesliga, wo stets ein nichtsehbehinderter Spieler auf dem Feld sein darf. Bei der SSG Blista Marburg übernimmt Vestweber diese Position. Blista ist die Kurzform für Blindenstudienanstalt, einer Bildungseinrichtung für sehbehinderte Menschen. "Das Ganze ist also voll inklusiv", sagt Vestweber.

Inklusion, das ist die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Neben Goalball gibt es andere Teamsportarten, in denen Nichtbehinderte unkompliziert mitwirken können, zum Beispiel Sitzvolleyball. Bei solchen Spielen wachse das Verständnis füreinander, sagt Thomas Abel, Professor für paralympischen Sport an der Sporthochschule Köln. Lehramtsstudierende werden in Köln auch mit Rollstuhlbasketball vertraut gemacht. Abel sagt: "Sie nehmen einen Rollstuhl nicht mehr nur als Einschränkung war, sondern auch als faszinierendes Sportgerät."

Einfach ist die Umsetzung aber nicht. Wenn etwa in einer Regelschule von zehn Schülern einer auf einen Rollstuhl angewiesen ist - müssen dann Rollstühle für den Rest der Klasse besorgt werden, damit eine Partie im Rollstuhlbasketball auch funktioniert? "Das kann sich natürlich nicht jede Schule leisten", sagt Abel. Aber bei vielen anderen Sportarten sei es gar nicht so kompliziert, auch beim Goalball nicht. Wichtig seien Neugier und Offenheit. "Man muss manchmal auch den Mut für die Improvisation haben. Ohne dabei willkürlich und gefährdend zu sein."

Vestweber ist als Trainer, Schiedsrichter und Funktionär tätig

Sitzvolleyball ist ein weiteres Beispiel. 2013 beschloss der Deutsche Behindertensportverband, dass maximal zwei der sechs Feldspieler ohne jegliche Behinderung dabei sein können. Dem Kader von zwölf Spielern dürfen bis zu sechs Nichtbehinderte angehören. Der Behindertensportverein Leipzig, eines der besten Teams, verpflichtete vorübergehend Mark Siebeck, Volleyballnationalspieler außer Dienst, mit einer Erfahrung von 147 Länderspielen. Auch im Rollstuhlbasketball laden immer mehr Vereine Nichtbehinderte zum Training oder Spielbetrieb ein. Zumindest in den regionalen und nationalen Wettbewerben.

Tobias Vestweber ist in seinem Marburger Verein auch als Trainer, Schiedsrichter und Funktionär tätig. Er kann sich vorstellen, dass paralympische Sportarten wie Goalball sich mehr öffnen für nichtbehinderte Sportler. Die Anforderungen seien lösbar: Schulungen für Trainer und Lehrer, spezielle Bälle und Spielfeldlinien. Vestweber hofft, dass seine Kollegen nun in Rio mit einer paralympischen Medaille Werbung machen. Ihr erstes Spiel gewannen sie gegen Algerien 10:0. "Früher war mir der Umgang mit Blinden suspekt, ich hatte viele Vorurteile", sagt er. "Aber durch meine Erfahrungen habe ich nun ein anderes Bild." Ein Bild, das mehr kennt als Schwarz und Weiß.

© SZ vom 11.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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