HSV in Bielefeld:Der Nervenarzt spielt mit

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Beim HSV offenbaren sich zum Rückrundenstart bekannte Muster. Nach dem Führungstreffer präsentieren sich die Hamburger mutlos. Ihr neuer Torwart Frank Rost bekämpft das alte Trauma.

Ulrich Hartmann

In jenem Moment, als am Samstag um Viertel nach Fünf der Abpfiff in Bielefeld ertönte, sprang der Zeitzähler auf der Internetseite des Hamburger SV auf exakt folgenden Wert: 43 Jahre, 156 Tage, 1 Stunde, 18 Minuten, 30 Sekunden. Sie zählen dort jede einzelne Sekunde, die der HSV in der Bundesliga spielt.

Die Anzeige ist etwas Besonderes, weil der HSV doch der letzte Verein ist, der seit der Gründung der Bundesliga im Jahr 1963 ohne Unterlass mitwirkt. Dieser Rekord bekommt momentan eine zusätzliche Bedeutung, weil die Gefahr besteht, dass die Uhr auf der Internetseite in 110 Tagen für immer stehen bleibt. Es gab vorerst jedenfalls keine neue Hoffnung, als der Rückrundenauftakt der abstiegsgefährdeten Hamburger bei Arminia Bielefeld beim Stande von 1:1 abgepfiffen wurde.

Im Gegenteil. Die Internetuhr des HSV wäre vor Schreck sofort stehen geblieben, wenn sie hätte hören können, was der neue Torwart Frank Rost unmittelbar nach seinem ersten Pflichtspiel für die Hamburger gesagt hat. "Na und", hat er gesagt, "dann steigen wir halt ab!"

Rost ist neu beim HSV, er ist Torwart und ein Hitzkopf, und in dieser Mischung eignet er sich für aufrichtige und provokante Kommentare, die sich wohltuend abheben von den branchenüblichen Durchhalteparolen aller anderen HSV-Angestellten. Als Rost am Samstag vom Abstieg sprach, war dabei weder Fatalismus noch Pessimismus im Spiel. Rost hatte nur so eine Ahnung bekommen im Laufe der 90 Minuten in Bielefeld, eine Ahnung davon, was die Hamburger so blockiert und was sie seit nunmehr zehn Spielen in Serie davon abhält, einfach mal wieder zu gewinnen.

"Dieses Gequatsche von der zweiten Liga, dieser ganze Rotz, der muss raus aus den Köpfen, und wenn schon, na und, dann steigen wir halt ab", sagte der bis Dezember beim FC Schalke 04 tätige Torwart und dachte dabei sicher nicht an den Stolz der Fans, die sich jeden Tag die Uhr auf der Internetseite ansehen.

Wenn vom HSV als Dinosaurier der Bundesliga die Rede ist, dann betrachten die Fans das als Kompliment. Dass Dinosaurier, wie die Geschichte lehrt, zum Aussterben verdammt sind, wird ignoriert.

Später Ausgleich durch Borges

In Hamburg hatten sie gehofft, die fünfwöchige Winterpause könnte eine Zeit des Vergessens werden und ein Sieg zum Auftakt neuen Mut bringen, wo doch schon die Belegschaft und der Trainer die alten geblieben sind. Doch gleich dieses erste Rückrundenspiel in Bielefeld brachte so viele Déjà Vus auf einmal, dass die Saison für den Verein genau dort weitergeht, wo sie im Dezember aufgehört hat: In dieser 18. Partie spielte der HSV zum elften Mal unentschieden, zum fünften Mal reichte ihm eine 1:0-Pausenführung nicht zum Sieg und zum fünften Mal kassierte er das entscheidende deprimierende Gegentor in den letzten zehn Minuten.

Die Hamburger 1:0-Führung durch Danijel Ljuboja aus der zehnten Minute hatte bis zur 88. Minute Bestand. Als alle schon mit dem zweiten Saisonsieg nach jenem 2:1 in Leverkusen am 22.Oktober rechneten, köpfte Bielefelds Marcio Borges zwei Minuten vor dem Ende den Ausgleich. "Und erst nach diesem 1:1 fingen wir wieder an, Fußball zu spielen", schimpfte Torwart Rost, "dabei hätten wir vorher schon mutig weiterspielen müssen - mehr als verlieren kann man doch nicht!"

Zwischen Mutlosigkeit und Verlustängsten haben die Hamburger im Laufe der Saison etliche Punkte liegen lassen. Die Analyse des extrovertierten und noch nicht infizierten Rost wirkte wie die Diagnose eines Nervenarztes. "Nach der Führung hat sich die Mannschaft immer weiter zurückgezogen", sagte Rost, "da schalten einige komplett ab, da kannst du brüllen wie du willst!" Und Rost hat gebrüllt. Immer wieder hat er seine immer mehr in sich zusammenfallenden Vorderleute auf Normalgröße zurückschreien wollen, doch im Fortlauf einer Partie, in jenem Prozess des zur Entscheidung neigenden Spiels, antizipieren die ängstlichen Hamburger neue Negativerlebnisse.

So kam es auch in Bielefeld. Der Ausgleich kurz vor Schluss frischte das Trauma auf, weshalb es floskelhaft und programmatisch wirkte, als der Trainer Thomas Doll nach dem Spiel mit leerem Gesichtsausdruck sagte: "Gegen Cottbus am Mittwoch müssen wir ein richtiges Feuerwerk abbrennen." Dieses Feuerwerk sollen Spieler anzünden, die an einer Luntenphobie leiden.

"So einen Druck habe ich in meiner Karriere noch nicht erlebt", sagte der Abwehrspieler Bastian Reinhardt, woraus sich die Frage ergibt, welchen Erfolg der Torwart Rost wohl haben kann mit seiner die Enttäuschung von Bielefeld abschließenden Forderung: "Wir haben doch noch 16 Spiele, wir müssen es bloß schaffen, wieder mit Spaß und Freude zu spielen!"

© SZ vom 29.1.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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