Hollands Torwart:Elf Jahre Strafraum

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Hohe Kunst, keine Titel: Rekordtorwart van der Sar hofft auf den späten Erfolg.

Ulrich Hartmann

Im Training haben die Holländer Volleyball gespielt. Fünf gegen Fünf.

Erlaubt war nur der Kopf. Volleyball bloß mit dem Kopf erfordert eine gewisse Fertigkeit im Umgang mit dem Ball. Edwin van der Sar kann das. Deshalb spielt er beim Kopfvolleyball und beim Fußballtennis immer mit und fällt nicht mal negativ auf.

Van der Sar ist eigentlich Torwart, aber technisch ziemlich begabt. Seinem Nationaltrainer Marco van Basten gilt er als elfter Feldspieler. "Wir müssen den Ball immer in Bewegung halten", sagt van Basten über das niederländische Spiel, "und dafür ist Edwin der richtige Torwart, denn er denkt wie ein Feldspieler und verteilt die Bälle geschickt auf alle Seiten."

Edwin van der Sar glaubt, dass er in den vergangenen Jahren immer besser geworden ist. Er ist jetzt 35, aber das ist ja kein Alter für einen Torwart. Er will weiter spielen. Vielleicht bis zur Europameisterschaft in zwei Jahren. Er wird dann eine solche Anzahl von Länderspielen absolviert haben, dass es nachfolgenden Spielern schwer fallen wird, diese zu erreichen. Am heutigen Mittwoch gegen Argentinien stellt van der Sar die Rekordmarke des Abwehrspielers Frank de Boer ein.

Der führt die Rangliste der niederländischen Rekordnationalfußballer mit 112 Spielen an. Schon im Achtelfinale wird van der Sar alleiniger Rekordhalter sein mit 113 Spielen. Doch im Moment denkt der 1,97 Meter große Torwart nur an die WM. "Ganz ehrlich, ich habe mich noch nicht mit diesem Rekord beschäftigt", sagt er. "Ich glaube, das kommt erst später."

Kein Platz in der Jubeltraube

Am 7. Juni 1995 hat Edwin van der Sar in Minsk sein erstes Länderspiel bestritten. Es ging 0:1 verloren in der EM-Qualifikation gegen Weißrussland, und die niederländische Presse schüttete damals Hohn und Spott über die Mannschaft.

Zwei Wochen zuvor hatte van der Sar mit Ajax Amsterdam überraschend die Champions League gewonnen, durch ein 1:0 in Wien gegen den AC Mailand. Es ist bis heute sein größter Erfolg geblieben, denn mit der Nationalmannschaft war ihm bei drei Europameisterschaften und einer WM kein Titel vergönnt.

Van der Sar wird, wenn nichts mehr passiert, als Rekordhalter, aber auch als eine Art tragischer Held in die Geschichte des niederländischen Fußballs eingehen. Gleich drei Mal nacheinander schied er mit Holland in einem Elfmeterschießen aus: bei der EM 1996 im Viertelfinale gegen Frankreich, bei der WM 1998 im Halbfinale gegen Brasilien und bei der EM 2000 im Halbfinale gegen Italien.

"Wenn ich zurückblicke auf elf Jahre in der Nationalmannschaft, dann möchte ich eigentlich nicht als Erstes an die Elfmeterschießen denken", sagt er mit einem bitteren Grinsen. Und doch sind diese unglücklichen Niederlagen bis heute mit seiner internationalen Karriere verbunden.

Bei der WM 1998 in Frankreich, als die Niederlande das Duell am Elfmeterpunkt gegen Brasilien verloren, war eine besondere Gelegenheit zum Erfolg. "Wir hatten damals die beste Nationalmannschaft, in der ich je gespielt habe", sagt van der Sar, "wir hätten Geschichte schreiben können." Doch es war auch die schwierigste Zeit.

Jene Mannschaft war innerlich zerrissen zwischen Schwarz und Weiß, und van der Sar hat die Spaltung einmal sehr deutlich zu spüren bekommen. In die Jubeltraube nach dem 2:1-Siegtreffer durch Edgar Davids in der 91. Minute des Achtelfinales gegen Jugoslawien wollte man ihn nicht einlassen. Beinahe wäre es zur Schlägerei gekommen, doch der Erfolg des Teams hat viele Probleme überzeichnet.

Solche Szenen sind in der heutigen Mannschaft undenkbar. Wenn man die Nationalspieler dieser Tage im Training beobachtet, sieht man eine ausgelassene Jugendmannschaft. Die Jungs spielen, toben und schreien, necken sich und werfen sich übereinander, wenn sie beim Fußballtennis gewonnen haben. "Ich weiß nicht, ob ich jemals so viel Spaß in der Nationalmannschaft hatte", sagt van der Sar mit der Erfahrung aus elf Jahren.

Was das für den sportlichen Erfolg bedeutet, steht allerdings auf einem anderen Blatt. "Es gibt bessere Mannschaften bei dieser WM als uns", sagt der Torwart nüchtern. Dabei fehlt ihm doch gerade ein großer Titel mit dem Nationalteam, um die Karriere später einmal beruhigt beenden zu können. Es sieht im Moment nicht danach aus, als könnte das dem Torwart, der nach den Stationen Ajax Amsterdam, Juventus Turin und FC Fulham seit Juli 2005 bei Manchester United spielt, bereits bei dieser Weltmeisterschaft gelingen. Eher schon in zwei Jahren bei der EM in Österreich und der Schweiz. Wenn die junge Mannschaft weiter gereift ist.

Vielleicht mag Edwin van der Sar auch deshalb noch nicht das Ende seiner Zeit im Nationalteam ausrufen. Vielleicht hält er sich deshalb offen, bis 2008 weiterzumachen. "Ich werde erst nach der WM über meine Zukunft entscheiden", sagt er.

Marco van Basten jedenfalls weiß, was er zwei weitere Jahre an van der Sar hätte. Der Torwart gibt einer jungen Mannschaft in jeder Hinsicht Rückhalt. Trotzdem hat van Basten seinen Kapitän ein bisschen geneckt vor dem Rekordspiel. "Vielleicht sollte ich Edwin gegen Argentinien mal eine Pause gönnen", hat er gewitzelt. Van der Sar konnte darüber gar nicht lachen. Er musste Kopfvolleyball spielen.

© SZ vom 21.6.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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