Holland:Eine vergangene Generation

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Bondscoach Dick Advocaat wird erneut wegen seiner Taktik kritisiert, weil er älteren Spielern vertraut. Immerhin werden die Fehler in den eigenen Reihen gesucht - und die Leistung des Gegners gewürdigt.

Von Philipp Selldorf

Arjen Robben ist zwar erst 20 Jahre alt und hat lediglich vier Länderspiele für Holland bestritten, aber er hat bereits für das ganze Leben ausgesorgt - der Ölbaron Roman Abramowitsch hat ihn kürzlich für sein Freiluft-Museum in London erworben und dort in die wertvolle Kollektion zeitgenössischer Fußballer eingereiht. 20 Millionen Euro Ablösesumme erhält der PSV Eindhoven für den Angreifer.

Am Dienstagabend saß Robben, der wohl ein gewisses Talent besitzt - auch andere Spitzenvereine als der FC Chelsea wollten ihn unbedingt verpflichten -, auf der Ersatzbank und fühlte sich schlecht unterhalten. Das Spiel, dem er unbeteiligt zusah, gefiel ihm nicht. "Ein bisschen negativ" fand er den Auftritt der Deutschen, "nur verteidigen, verteidigen, verteidigen.

Acht von zehn Spielern sind über 1,90 Meter, da stand eine Mauer von Körpern." Die alte holländische Denkschule eben, ein bisschen negativ, wenn es darum geht, die Leistung der Gegner zu würdigen. Neu aber ist, dass Robben mit seiner Meinung ziemlich allein war.

Die übrigen Beteiligten und ihre ständigen Beobachter suchten den Fehler nicht bei den Deutschen und beschwerten sich auch nicht über deren angeblich destruktives Spiel. "Deutschland hat eine starke Mannschaft und kann weit kommen bei diesem Turnier", lobte Verteidiger Giovanni van Bronckhorst.

Über seinen deutschen Kollegen im Mittelfeld, Michael Ballack, schwärmte der hoch gehandelte junge Ajax-Profi Wesley Snijder mit einer Emphase, als ob er ihn heiraten wollte. Die alten Zeiten des Hochmuts scheinen vorbei zu sein. Eher fanden kritische Holländer Befürchtungen bestätigt, die seit einiger Zeit diese Mannschaft begleiten.

In Wahrheit mittelmäßig

In Deutschland mag man ja glauben, dass die Vereine in Holland Ausnahmetalente in einer beliebigen Stückmenge züchten wie die Landwirte Tulpen und Tomaten. Doch dieses Dafürhalten beruht womöglich auf landestypischem Kleinmut. Blickt man unbefangen auf Hollands jüngere Fußballhistorie, eröffnet sich eine Bilanz, die nicht nur auf unglücklichen Zufällen beruhen kann.

Vor zwei Jahren fuhren die Deutschen bekanntlich ohne Holland zur WM; in der EM-Qualifikation kamen die Tschechen der Elftal zuvor; in der Entscheidungsrunde gegen Schottland drohte nach dem 0:1 im Hinspiel die Angst vor dem Scheitern die Deiche zu sprengen; und in der Testserie vor dem EM-Turnier gab es einen müden Sieg (3:0 gegen die Färöer-Inseln) und zwei peinliche Niederlagen.

Nicht wenige Experten vertreten deshalb die Auffassung, dass ihr Team in Wahrheit mittelmäßig ist, und es ist auch das Geständnis eines generellen holländischen Defizits, wenn Co-Trainer Jan Wouters an den Deutschen bewundernd hervorhebt, "dass sie als Mannschaft zusammenspielen und ein gutes Team bilden".

Womöglich hatten die Holländer mehr Respekt vor ihren Nachbarn als die sich das vorstellen konnten. Oliver Kahn wunderte sich: "Nach dem 1:1 dachte ich: Jetzt kommen die mit Mann und Maus und versuchen das 2:1 zu machen - und dann haben sie sich auf ein mal hinten reingestellt und waren zufrieden."

Auf der Suche nach neuer Hoffnung hätten viele Holländer gern gesehen, wie die Nachwuchskraft Arjen Robben sich gegen die deutsche Mauer versucht, aber Dick Advocaat traf andere Dispositionen. Über die Erwägungen des Nationaltrainers wird nun wieder ausgiebig diskutiert werden, nicht nur die Reporter waren grundsätzlich anderer Meinung als Advocaat, dessen Aufstellung abermals viele verblüfft - und geärgert hatte.

Mittelfeldmann Edgar Davids, düsterer Blick unter den gewaltigen Locken, die wie Schiffstaue um seinen Kopf wedeln, sprach nach dem Match bedrohliche Worte zu den ausländischen Reportern (mit den heimischen redet er nicht gern): "Wir müssen unsere Taktik ändern. Aber das werden wir intern besprechen."

Flügelstürmer Andy van der Meyde stellte fest: "Wir haben nicht unser Spiel gespielt, wir waren schlecht, wir haben zu lang den Ball hintenherum getragen und kamen nie richtig nach vorn. Aber es ist nicht so, dass wir nur schlecht waren - die Deutschen waren auch gut." Vor dem Match hatte van der Meyde seinen Trainer mit dem Bekenntnis entsetzt, dass er von seinem mutmaßlichen Widersacher Philipp Lahm noch nie gehört habe - jetzt kennt er ihn.

Der Zauber hat nachgelassen

Garantiert wird Advocaat Vorwürfe dafür erfahren, dass er während der ersten Halbzeit Boudewijn Zenden spielen ließ. Zenden, der beim FC Chelsea unter Vertrag steht, aber sich zuletzt als Leihgabe beim FC Middlesbrough verdingen musste, genießt kein großes Ansehen mehr.

Sein Einsatz wird als Beispiel für Advocaats ängstliches Denken gewertet. Auch die letztlich produktive Einwechslung von Marc Overmars ändert daran nichts. Overmars, 31, gehört nach dem Verständnis vieler Kritiker einer vergangenen Generation an, sein bisheriger Arbeitgeber FC Barcelona hat an seinen Diensten, wie auch an denen seiner Teamkameraden Cocu, Reiziger und Kluivert, kein Interesse mehr.

Geht es gegen die Deutschen, strengen sich die Holländer üblicherweise besonders an. Doch der Zauber der alten Rivalität hat nachgelassen, nicht nur in den Straßen und auf den Tribünen, wo sich die Fans in die Arme fielen, auch auf dem Platz. "Es ist immer ein besonderes Spiel gegen Deutschland", meinte Verteidiger van Bronckhorst, "aber es ist nicht mehr so speziell wie es in der Vergangenheit gewesen ist."

© Süddeutsche Zeitung vom 17.6.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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