Hockey-EM:Mit Ecken gestraft

Lesezeit: 3 min

Ein Dutzend erstklassige Chancen vergeben: Der knappe Halbfinal-Einzug der Hockey-Frauen ist ein Lehrstück über die Tücken im Abwärtstrend.

Von Volker Kreisl, Antwerpen/München

Drei Minuten vor Spielende waren die deutschen Hockey-Frauen praktisch draußen. Nach all den Rückschlägen, den vermasselten Chancen, der verlorenen Treffsicherheit und den ungeschriebenen Regeln der Abwärtsspirale konnte das nicht mehr gut gehen.

Anna O'Flanagan stand also jetzt, in der 56. von 60 Spielminuten, allein vor der deutschen Torhüterin Julia Sonntag. Nur noch ins kurze Eck musste sie schießen zum 2:1, und das hätte Team Irland sicher gegen einen endgültig deprimierten Gegner über die letzten Sekunden gebracht.

Aber O'Flanagan meinte, lupfen zu müssen, Sonntag brachte die Hand dazwischen, und dann war es doch die Auswahl des Deutschen Hockey-Bundes, die hier etwas sicher über die letzten Sekunden brachte, nämlich ein 1:1, das ihr zum Einzug ins EM-Halbfinale am Freitag gegen Spanien (20.30 Uhr) genügte. Nach 60 Minuten des Verzweifelns und Hoffens, des Auf-den-Boden-Hauens und Den-Himmel-Anflehens hat sich die Mannschaft insgesamt gerechterweise doch noch durchgesetzt. Allerdings hinterließ sie wieder mal einen labilen Eindruck. Das Team von Bundestrainer Xavier Reckinger war schon bei der WM in London 2018 nach bravouröser Vorrunde im ersten K.-o.-Spiel gescheitert, und auch nun haben sie beste Referenzen, aber wieder sieht es so aus, als würden sie immer dann anfällig, wenn es darauf ankommt. "Wir haben den Zugriff auf das Spiel verloren", sagte Sonntag.

Umkämpft: Die deutschen Hockeyspielerinnen (Mitte: Pia Maertens) tun sich lange schwer, erreichen aber das EM-Halbfinale gegen Spanien. (Foto: Frank Uijlenbroek/dpa)

Eigentlich haben die DHB-Frauen wie -Männer nach dieser EM in Belgien ein ganz anderes großes Ziel: eine Medaille bei den Olympischen Spiele 2020 in Tokio. Sie wissen, dass sie noch manches zu lernen haben, und auch wenn das so nicht beabsichtigt war, so war dieses Irlandmatch auch ein Lehrstück dafür, wie man trotz schnelleren Zusammenspiels, trotz besserer Taktik und versierterer Einzelspieler am Ende fast rausfliegt. Per Lupfer.

Nicht selten beginnt ein langes Elend mit einem perfekten Start. Reckingers Spielerinnen kombinierten klug und konsequent, vergaben in der siebten Minute eine Chance und trafen in der achten ins Tor - Pia Maertens schoss lässig mit der Rückhand unter die Latte. Eine frühe Führung also, gegen ein Team, dass gewinnen muss um weiterzukommen, was will man mehr? Alles war gerichtet für einen hohen Kontersieg, und auch die Tatsache, dass im weiteren Anstürmen zunächst Hannah Gablac die Kugel knapp am entfernten Pfosten vorbei schickte und dass zwei Minuten später Rebecca Grote eine Strafecke vergab, musste noch gar nichts heißen.

Bedenklicher war eher, dass es gleich darauf 1:1 stand. Die Irinnen hatten insgesamt zwei Strafecken, und die erste von beiden hatten sie gleich verwandelt, allerdings auch ein bisschen mit Unterstützung der Deutschen. Wichtig bei der Kurzecken-Verteidigung ist insbesondere die Herausläuferin, die sich als Erste von der Torlinie nach vorne stürzt um den Schusswinkel zu verkleinern. Die deutsche Rausläuferin Hanna Granitzki jedoch startete eine Nuance zu früh, weshalb sie an die Mittellinie geschickt wurde, nur noch drei Spielerinnen verteidigen durften und der Ball der Irinnen seinen Weg ins Tor fand.

Die Frage blieb, wann und wie man aus so einem Albtraum noch aussteigen kann

Die Überlegenheit von Reckingers Mannschaft blieb aber zunächst bestehen. Sie kontrollierte den Ball und schob ihn sich auch nicht nur um ein Abwehrbollwerk herum zu, sondern verschaffte sich konkrete und erstklassige Chancen. Aber jede große Chance enthält ja auch die kleine Chance, dass sie nicht genutzt wird, und viele Teamsportler wissen davon zu berichten, wie die Unsicherheit irgendwann anschwillt. 17. Minute: Zimmermann schlenzt eine Strafecke nicht exakt genug; 21. Minute: abermals scheitert Zimmermann bei der Strafecke. 22. Minute: Cecile Pieper knallt den Ball aus der Drehung an den linken Pfosten, der springt zurück zu Elisa Gräve, die sofort nachschießt, allerdings an den rechten Pfosten.

Das ist dann der Punkt, an dem Anhänger und Betreuer eine böse Ahnung beschleicht und die Spielerinnen Alternatives versuchen. Bei der nächsten Strafecke, die sie sich herausspielten, wählten die Deutschen eine weniger direkte Variante, die aber versandete und umgehend in einen Gegenkonter überging, der gerade noch am eigenen Kreis abgeblockt wurde. Acht Strafecken hatten die Deutschen letztlich insgesamt, keine von ihnen ging rein, auch nicht die Chancen aus dem laufenden Spiel, und nicht mal mehr der Sieben-Meter von Nike Lorenz, kurz bevor die 57. Minute anbrach.

Doch auch wenn's so wirkt, es war keine Hockey-Komödie, sondern ein seltsames Spiel, das irgendwann damit endete, dass ein Team mit guter Spieleröffnung vor einem Torverschluss stand - aus eigenem Verschulden, aus Unerfahrenheit aber auch aus Pech. Die Frage bleibt, wann und wie man aus so einem Albtraum aussteigen kann. Vielleicht wäre es mit Ruhe in diesem Fall eher gelungen als mit immer noch mehr Kampfgeist. Selin Oruz stellte fest: "Wir haben nicht mehr die einfachen Dinge gemacht."

In den Medaillenpartien steht nun Wichtigeres an, schnell geht es weiter. Aber der Ordner mit dem EM-Vorrunden-1:1 gegen Irland dürfte einen festen Platz in Reckingers Laptop bekommen. Als Lehrvideo für Teampsychologie, Teufelskreise - und für ein Happyend, weil man in den letzten drei Minuten mit einfachen Mitteln und konsequenter Abwehr doch noch den Erfolg mitgenommen hat.

© SZ vom 23.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: