Hockey-Damen:Schwestern des Irrsinns

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Mal miserabel, mal gigantisch - die deutschen Frauen sind die Extremsportler der Hockey-Welt

Von Ronald Reng

Jeden Abend, wenn sie in ihrem kleinen Zweibett-Zimmer im Olympischen Dorf schlafen gingen, machten Caroline Casaretto und Tina Bachmann das Licht aus, es wurde still und dann sagte Casaretto: "Tina, stell dir vor, wir mit so einer Medaille um den Hals - Gute Nacht."

Jeden Morgen, wenn sie in ihrem kleinen Zweibett-Zimmer im Olympischen Dorf aufstanden, das Sonnenlicht hereinkam, es noch still war, sagte Bachmann: "Caro, stell dir vor, wir mit so einer Medaille um den Hals - Guten Morgen."

"Noch gar nicht wirklich"

Und nun, wo sie wissen, sie kriegen die Medaille, kann sich Caroline Casaretto gar nicht vorstellen, wie es ist. "Es ist so komisch", sagt die 26-Jährige aus München, "es ist noch gar nicht" - sie sucht nach Worten, während ihre Augen weiter glühen: "Es ist noch gar nicht wirklich."

Manchmal erlaubt sich auch die Wirklichkeit die größten Späße. Und so spielt an diesem Donnerstag um 19.30 Uhr deutscher Zeit im olympischen Hockeyfinale gegen den Europameister Niederlande eine Mannschaft um Gold, der Silber unfassbar toll erscheint.

Die deutsche Frauen-Nationalelf im Endspiel? Es schien so wahrscheinlich wie 18 Prozent für die FDP bei der Bundestagswahl. Weltklasse war ein Wort, das in Bezug auf diese Elf in den zurückliegenden Jahren nur noch in der Kombination mit den Wörtern "ehemals" oder "weit entfernt" verwendet wurde, der siebte Platz bei der jüngsten WM schien ihr Können gebührend zu spiegeln.

Chamäleon von einem Team

Aber dies ist ein Chamäleon von einem Team, das sich von einem Tag auf den anderen von der miserabelsten in eine gigantische Elf und wieder zurück verwandeln kann. Der Mensch hat sich viele Ausdrücke geschaffen, um Unwirkliches zu beschreiben: verrückt, wahnsinnig, abgefahren; diese Spielerinnen haben alle Begriffe in zehn olympischen Tagen aufgebraucht, und jetzt steht man da, ohne Worte, sie zu beschreiben, Schwestern des Irrsinns.

"Muss ich denn was Extremes machen?", fragte Bundestrainer Markus Weise zurück, als er gefragt wurde, wie er einen Sieg im Finale würdigen würde. "Na gut, dann laufe ich halt eine Runde nackt durchs Olympische Dorf."

Wenn er sich da mal auf seine Mannschaft verlassen kann, dass sie dieses Schauspiel mit einer Niederlage verhindert. In der Vorrunde verloren sie zwar gegen die Niederlande 1:4, zur Pause stand es 0:4, es schien nach dem Spielverlauf ein gutes Resultat für die Deutschen zu sein.

Doch es ist nur ihr eines Gesicht, ihre Fratze. Ihr zweites, ihr strahlendes zeigten sie am Dienstag im Halbfinale, als sie mit exzellentem Positionsspiel und viel Leidenschaft den hoch fliegenden Chinesinnen ein 0:0 abtrotzten und schlussendlich das Siebenmeterschießen 4:3 gewannen.

Niemand weiß, was sie im Finale anstellen können. Am wenigsten wohl sie selbst. Konservative Tipps schwanken zwischen 1:0-Sieg oder 1:7-Niederlage.

Überall auf der Welt sitzen Trainer und blicken nach Athen, um sich etwas von den Erfolgreichen abzuschauen, und die Frage stellt sich natürlich: Was bloß lässt sich von Weises Team lernen? Es ist schwierig, den Erfolg einer Elf zu erklären, die jedes zweite oder dritte Spiel viel von dem falsch macht, was im Match zuvor richtig war, aber ein paar Punkte lassen sich wohl festhalten.

Die Defensive ist gut organisiert, auch weil sie Vorrang hat. Fanny Rinne, die kreativste Spielerin im Mittelfeld, agiert beim Turnier in Athen meist sehr tief, fast wie eine dritte Innenverteidigerin.

Weise, der die Elf erst vor einem Jahr übernommen hat, richtet die Taktik jedes Mal neu nach dem Gegner aus, gegen China beispielsweise machte er das Flügelspiel als Stärke des Gegners aus und ordnete an, auf den Flanken Pressing zu spielen, um den Spielaufbau des Gegners ins Zentrum zu zwingen.

An solchen Details lässt sich der scharfen Blick des Trainers erkennen, und Details sind alles, was im Spitzensport entscheidet.

Keine überragenden Spielerinnen

Es ist eine Mannschaft mit etlichen guten, aber ohne überragende Spielerinnen. Die Berliner Torfrau Louisa Walter war die Siegbringerin gegen China, nicht nur wegen der zwei gehaltenen Siebenmeter, die 23-jährige Anke Kühn aus Braunschweig ist das beste Beispiel für eine Spielerin, die in einem Turnier wächst, aber im Prinzip ist es dieselbe Besetzung, die unter Weises Vorgängern aus der Weltspitze verschwand.

Für mindestens fünf oder sechs wie die graziöse Außenstürmerin Heike Lätzsch, die schon als 18-Jährige 1992 in Barcelona die bislang letzte - silberne - Olympiamedaille der Frauenelf gewann, wird das heutige Finale ihr Abschiedsspiel im Nationaltrikot sein.

"Wir müssen nach Athen die Generation wechseln", sagt Weise und fürchtet beim Blick auf die Juniorinnen, die nachrücken, "dann werden wir erst mal wieder zwei, drei Jahre wegbrechen". Doch heute zählt nur der Augenblick. Es wird ein großer, ob sie nun Gold oder Silber umgehängt bekommen.

© SZ vom 26.8.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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