Hintergrund:Nachfolger der Samurai und Kamikaze

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Die erfolgreichen, artigen, ordentlichen japanischen Fußballer begründen eine ganz neue Nippon-Tradition.

Martin Hägele

(SZ vom 15.6.02) - Das blaue Festival geht weiter auf Tournee - und die Welt staunt dazu. Mittlerweile sind es immer mehr Europäer, die den Medien-Offizier der Fifa sowie den Event-Manager begleiten, wenn diese 90 Minuten nach Spielschluss in der Umkleidekabine der japanischen Nationalelf ihren Kontrollgang machen. Stets sieht es hier aus, als wäre die Putzkolonne, die eine Stunde später hier einen sinnlosen Job verrichten muss, längst fertig mit Saubermachen. Keine Bananenschale, keine leeren Getränkeflaschen oder Wasserlachen auf dem Boden, nirgendwo auch nur ein Fitzelchen Müll oder Dreck. Die Vermutung liegt nahe, dass jeder dieser Spieler, die nun als Idole und Nationalhelden durch ihr Land reisen, in der großen Sporttasche auch seine persönliche Mülltüte und im Fach neben dem Föhn noch einen Handstaubsauger eingepackt hat.

Japans Hiroaki Morishima nach seinem Tor zum 1:0 gegen Tunesien. (Foto: N/A)

Respekt aus der alten Welt

Die Tournee rollt nun weiter. Und nach dem 2:0 über Tunesien, das die Auswahl Japans zum klaren Gruppensieger gemacht hat, muss auch die nächste Station Miyagi gegen die Türken noch lange nicht Endstation sein. Nach Saitama und Yokohama könnte die Reise noch einmal nach Osaka zurückführen, zur Wiederholung des dunkelblauen Festivals - dann allerdings im Viertelfinale. Wer vor zwei Wochen Japan zu den besten Acht der Welt gezählt hätte, dem hätte man den Fußballverstand abgesprochen - aber auch gestern erkannten die Experten erneut, was von Philippe Troussier und seinen Leuten in den vergangenen vier Jahren geleistet worden ist. Man hätte nicht einmal die Belehrung durch den Franzosen gebraucht, "dass der japanische Fußball nicht so anerkannt wird wie es ihm gebührt - speziell in Europa". Nun aber wissen es die Gäste vom Mutterkontinent des alten Lederballs ganz genau.

Im Shinkansen-Tempo

Im einzigen Land der Welt, in dem sich die Uhr nach den Zügen stellen lässt, zieht auch Team Nippon seinen WM-Auftrag getreu nach Fahrplan durch. Ob gegen Belgien, Russland oder Tunesien, sobald die Spieler aus der Halbzeitpause zurückkommen, beschleunigen die Japaner auf Shinkansen-Tempo.

Das gehört inzwischen ebenso zum Alltag der J-League-Profis wie das Händeschütteln mit Prinz und Prinzessin acht Minuten vor dem Anpfiff und die Nationalhymnen - das Kaiserhaus schwimmt auf der Welle des neuen Sports mit; aber gegen solche Ehren kann sich der japanische Verband ja schlecht wehren. Schließlich tragen nicht so viele Untertanen zum Ruhm des Landes bei wie die sportlichen Nachkommen von Samurai-Kriegern und Kamikaze-Kämpfern. "Unsere Siege haben wir wegen unseres Muts und des Japanese Spirit verdient", beschreibt der Franzose Troussier den aggressiven Stil, einfach um jeden Ball zu kämpfen.

Bewundernswerte Selbstkontrolle

Zur Leistung und Einstellung aber gehören nicht nur anscheinend unbegrenzte Leidenschaft - fast noch bewundernswerter ist die Kontrolle, die sich die Japaner auferlegt haben. Als die Partie gegen die athletisch stärkeren Nordafrikaner ruppiger wurde, ließ sich kein Japaner provozieren. Sie nahmen das Foul hin, allerdings nicht die Entschuldigung, sie straften ihre Gegner mit kühler Distanz.

Und sie wurden nicht hektisch. Auch dann nicht, als sich - wie schon in den vorhergegangenen Spielen - gegen Ende des ersten Abschnitts nichts Zählbares einstellen wollte. Weil der bisherige Leistungsträger Inamoto etwas müde wirkte, wurde er im zweiten Durchgang durch Morishima ersetzt - nach nicht einmal zwei Minuten verjagte der mit dem 1:0 alle möglichen Ängste.

Superdiva im Dienst der Sache

Und der mit ihm ins Spiel gekommene Ichikawa wirbelte fortan am rechten Flügel. Dass ausgerechnet Nakata eine dieser Flanken per Kopf zur Entscheidung nutzte, tat nicht nur dem Torschützen, sondern allen im japanischen Team gut. Bis Anfang 2002 galt der Italien-Profi und Multimillionär als Superdiva; seither hat er Troussiers Kollektiv-Theorem begriffen und stellt seine Klasse total in den Dienst der Sache. Auch so kann man zum Man of the match werden.

Zur Nachspielzeit erhob sich die Galerie zur standing ovation. Wer in die Gesichter der Männer in Blau blickte, konnte darin pures Glück entdecken. Aber auch so etwas wie Staunen, dass sie das geschafft haben. Was können sie hier noch bewegen? Und wie viel können Willen, der Glaube an die Gruppe und eine Vorbereitung ausrichten, die nicht nur nach Taktik, Technik und Kondition, sondern auch auf den mentalen Bereich aller Spieler ausgerichtet war? Diese Antworten kennen selbst die Japaner nicht. Lieber träumen sie von einer Verlängerung ihrer blauen Tournee.

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