Hintergrund:Endlose Trauer unter langen Haaren

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Argentiniens Fußballer stolpern über ihren eigenen Traum - ihr 1:1 gegen Schweden bedeutet das Aus.

Martin Hägele

(SZ vom 13.6.02) - Es wird Nachrufe geben, und sie werden bestimmt nicht weniger traurig klingen, als jenes Don't cry for me, Argentina, das in Andrew Lloyd Webbers Musical Evita die geliebte, todkranke Präsidenten-Gattin Eva Perón an ihr Volk richtet. Sie werden die Delegation des WM-Favoriten nun auf ihrem Heimflug nach Buenos Aires begleiten und sie werden viele Tränen mit sich bringen. Als Argentiniens Starensemble um die Batistuta, Veron, Crespo am 15. Mai von Frankfurt aus abhob in das Land, über dem ihr Glanz aufgehen sollte, hatten die Millionäre im Jumbo noch gesungen wie eine lustige Reisegruppe Jugendlicher. Die Männer aber, die gestern aus der Kabine des Miyagi-Stadions kamen, hatten ihre Stirnbänder abgelegt, und die langen Haare verbargen endlose Trauer. Das 1:1 gegen Schweden bedeutete das Aus bei dieser WM, der große Traum war zerstört - der nächste Favorit gestrauchelt.

Stürmer Hernan Crespo nach dem Ausscheiden Argentiniens. (Foto: N/A)

"Warum Koffer packen?"

"Gegen Schweden gewinnen wir, keine Sorge", hatte Gabriel Batistuta, der alternde Torjäger, nach der 0:1-Niederlage gegen England noch gesagt. Sie hatten sich geweigert, überhaupt an die Möglichkeit des Ausscheidens zu denken. Selbst als sie gesehen hatten, was mit Weltmeister Frankreich passiert war. "Wieso soll ich nach meinen Koffern schauen?", fragte Daniel Ortega. Derselbe Ortega, der nicht mal eine Elfmeter-Chance gegen Magnus Hedman nutzen konnte - erst im Nachschuss verwandelte Crespo zum 1:1. Da war es zu spät. Nein, sie doch nicht. Die in den letzten vier Jahren alle Gegner an die Wand gespielt hatten, den Erzrivalen Brasilien, die Italiener auf eigenem Boden gar. Wer sollte ihnen gefährlich werden? Diese Schweden? Die im ersten Spielabschnitt nur sporadisch den Ball berührten, in 45 Minuten nur zwei halbwegs ordentliche Angriffe zustande brachten?

Doch schon da ließ sich erahnen, dass es hinter diesen selbstbewussten Gesichtern anders aussah. Vom Anpfiff an standen die Ersatzspieler in ihrem Häuschen, als würden die Kollegen deshalb die Kugel früher im Netz versenken. Und Marcelo Bielsa, den der Verband der Fußball-Historiker zum Welttrainer des Jahres 2001 gekürt hatte, bewegte sich so aufgeregt, als betreue er zum ersten Mal eine Jugendmannschaft. 15 Meter breit ist die Coaching-Zone. In diesem Kreidekäfig für Fußballlehrer tigerte der 46-Jährige ständig auf und ab.

Bundesligakicker stoppten die Stars

Und schon nachdem die ersten Möglichkeiten vergeben waren - und es gab viele Chancen durch Sorin, Claudio Lopez und Batistuta - schlug sich Bielsa jedes Mal die Hände vors Gesicht. Er zeigte seine Verzweiflung. Und langsam baute sich Panik auf, weil seine überlegene Mannschaft einfach nicht zu diesem befreienden Torerfolg kam. Auch die Ersatzspieler ließen sich davon anstecken; und so kam es zur kuriosesten Roten Karte dieser WM: Weil der Unparteiische die abfälligen Gesten von Altstar Caniggia bemerkt hatte, wurde Maradonas bester Freund in der 43. Minute auf die Tribüne verwiesen.

Der Freistoß, den Anders Svensson nach einer Stunde über die Mauer zauberte, weckte zwar noch einmal den Ehrgeiz der Argentinier. Doch auch die Einwechslungen von Veron und Crespo, den Supermännern der WM-Qualifikation, brachten lediglich optisch Wirkung. All diese hoch gepriesenen Vertreter der argentinischen Fußball-Elite schienen es einfach nicht begreifen zu können, dass ihnen immer wieder Leute wie der Bundesligakicker Andreas Jakobsson von Hansa Rostock im Weg standen oder Johan Mjallby vom FC Everton, der einfach kein Kopfballduell verlor.

Die Nationalflagge als Taschentuch

Ihren Frust werden sie nun noch einmal auf den Bildern sehen, die durch die Welt gehen, und auch in Flugzeugen laufen: Kily Gonzales, der von Ersatztorwart German Burgos gestützt werden musste. Der hatte ihm eine Nationalfahne über die Schulter gelegt, als Schutz gegen die Kälte, die sich an diesem Nachmittag plötzlich eingestellt hatte. Gonzales, vom FC Valencia brauchte die Decke als Taschentuch für seine Tränen.

In der Kabine war es totenstill. Auch als sich Batistuta mit einem "Danke für alles" für immer aus der Nationalelf verabschiedete. "Das war heute mein letztes Spiel", sagte der alternde Star, "aber wir können trotzdem gut schlafen, weil wir alles gegeben haben."

Wenn Götter straucheln

Zu klaren Worten war keiner in der Lage. Wenn eine Epoche zu Ende geht, bevor sie überhaupt richtig beginnt, kommen im ersten Augenblick nur Gefühle zu Tage. Veron etwa, an dem diese Ära aufgehängt werden sollte, sprach vom schwersten Moment seiner Karriere, aber niemand sei ein Vorwurf zu machen. Und der Trainer Bielsa fasste alles, was von seinen Emotionen übrig geblieben war, in fünf Worten zusammen: "Schrecklich enttäuscht und furchtbar traurig."

Sie konnten die Gesänge der Schweden hören, und als ihr Bus zum letzten Mal aus einem japanischen WM-Stadion weg fuhr, standen blau-weiß gewandete Fans und klatschten ihnen nach. Ob zum Hohn für den gestürzten Goliath oder aus Mitleid für eine Mannschaft mit vielen exzellenten Fußballspielern, ließ sich aus der Distanz nicht ausmachen. Nur darüber wie dieser Applaus hinter den Scheiben angekommen ist: "Ich fühle mich einfach nur schlecht", sagte Aymar, "wenn man von einem Team geschlagen wird, das ganz bestimmt nicht besser war." So ist das, wenn Götter straucheln.

Schweden: Hedman - Mellberg, Jakobsson, Mjällby, Lucic - Alexandersson, Linderoth, Anders Svensson (68. Jonson), Magnus Svensson - Allbäck (46. Andreas Andersson), Larsson (88. Ibrahimovic).

Argentinien: Cavallero - Chamot, Samuel, Pochettino, Chamot - Zanetti, Almeyda (63. Veron), Sorin (63. Gonzales) - Aimar - Ortega, Batistuta (58. Crespo), Lopez.

Tore: 1:0 Anders Svensson (59.), 1:1 Crespo (88.)Schiedsrichter: Bujsaim (Vereinigte Arabische Emirate)Zuschauer: 45777Rote Karte: Caniggia (45.) wegen Schiedsrichter-BeleidigungGelb: Magnus Svensson, Larsson / Chamot, Almeyda, GonzalesBes. Vorkommnis: Hedman hält Foulelfmeter (88.) von Ortega

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