Hintergrund:Einbildung macht Sieger

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Der Klassiker England gegen Brasilien wird das Spiel der besten Abwehr gegen den besten Sturm.

Ronald Reng

(SZ vom 20.6.02) - Jeder hat sein eigenes Brasilien. Für Angreifer Teddy Sheringham ist Brasilien "die Magie Zicos in den achtziger Jahren, seine Flicks und Tricks". Für Rio Ferdinand, den graziösen Verteidiger, ist Brasilien "die Unwiderstehlichkeit Ronaldos. Er ist einer meiner Helden; nun gegen ihn zu spielen, sprengt mir das Gehirn". Und für Robbie Fowler, den Ersatzstürmer, der Tore riechen kann, ist Brasilien "nicht mehr das, was sie mal waren". All diese Eindrücke werden die englischen Nationalspieler am Freitag in Shizuoka ins Viertelfinale gegen den viermaligen Weltmeister mitnehmen. Die Freude, gegen den Lehrmeister des reinen Fußballs zu spielen. Die Aufregung, sich mit Künstlern wie Ronaldo und Rivaldo zu messen. Und das Gefühl, dass sie Brasilien schlagen werden.

Englands David Beckham und Teddy Sheringham (rechts) lehnten sich beim Achtelfinale Brasilien gegen Belgien entspannt zurück. (Foto: N/A)

Aus Selbstvertrauen wächst Souveränität

Von allen Eigenschaften, die eine große Fußballelf ausmacht, ist dies die wichtigste: Der Glaube, besser zu sein, als man eigentlich ist. Mannschaften, die von diesem Glauben infiziert werden, sind Naturereignisse wie Lawinen. Sie rollen und rollen und werden größer und größer. Als sie nach einem mäßigen Start gegen Schweden (1:1) im zweiten WM-Spiel ihren traditionellen Rivalen Argentinien 1:0 schlugen, kam in dieser jungen, längst nicht ausgereiften englischen Elf der Gedanke auf, dass sie zu allem fähig ist.

Es war das erste Mal seit 1966, dass England bei einer WM einen der großen Vier Brasilien, Argentinien, Deutschland, Italien besiegte. Wie sie sich danach Nigerias und Dänemarks entledigten, hatte was. Nämlich die Souveränität einer erprobten Siegermannschaft. Dabei sind sie eigentlich noch gar nicht solch ein Team, wie es etwa Bayern München ist. Sie bilden es sich nur ein - aber das hilft schon.

Auf einmal machen selbst die vermeintlich schwächsten Glieder im Team wie Rechtsverteidiger Danny Mills oder Mittelfelddominator Nicky Butt Sachen, von denen sie selbst gar nicht wussten, dass sie das konnten. "Wenn du in solchen Turnieren ein gutes Spiel machst, dann packt dich die Überzeugung, dass du hast, was es braucht", sagt Sheringham, der mit 35 seine vierte Meisterschaft mit der Nationalelf bestreitet und sich an die EM 1996 erinnert. England schlug die Niederlande 4:1. "Dadurch bekamen wir einen Lauf", sagt Sheringham. Als sie im Halbfinale im Elfmeterschießen an den Deutschen scheiterten, brach für sie die Welt zusammen. Weil sie die Vorstellung, dass sie verlieren könnten, völlig verdrängt hatten.

Der Spaß am Spielen ist zurück

Nun ist 1996 zurück. Das elektrisierende Gefühl, zu großen Taten aufzubrechen, schien geradezu sichtbar beim Training in ihrem WM-Camp auf der Insel Awaji vor Kobe. Ungeschützt liegt es, mitten ins Brachland des Industriehafens im Dorf Tsuna gebaut - die Sonne brannte auf den Sportplatz herunter, doch die Spieler wollten - spielen.

Ersatztorwart David James ließ Mannschaftskapitän David Beckham per Hackentrick aussteigen, Beckham revanchierte sich mit einem Donner von einem Schuss ins Tor. Sie johlten, sie schrieen vor Spaß, sie nutzten jede Gelegenheit, sich anzufassen. Als ob sie sich ihres Zusammengehörigkeitsgefühls immer wieder versichern wollten.

Suchen nach der Schwäche

Am vergangenen Montag fuhr die Mannschaft nach Kobe, um Brasilien beim 2:0 im Achtelfinale gegen Belgien zuzusehen. 40500 Zuschauer sahen ein wundervolles Tor von Rivaldo; aber die englischen Spieler in ihrer Überzeugung, jeden schlagen zu können, sahen vor allem brasilianische Schwächen. "Die Brasilianer sind Kavaliere", sagte Fowler. Sie schenken dem Gegner viele Torchancen, meinte er.

Tatsächlich kann die Sorglosigkeit, mit der Brasiliens Verteidiger in die Offensive streunen, bei einem plötzlichen Ballverlust gegen England der fußballerische Freitod sein: Deren schnelle Stürmer Michael Owen und Emile Heskey sind geboren für das Konterspiel.

Spannung vor dem Klassiker

"Es wird das Spiel der besten Abwehr gegen den besten Angriff", sagt Englands Trainer Sven-Göran Eriksson. Er sagte einmal, wenn nicht Trainer, wäre er Sportreporter geworden, und mit solchen Aussagen scheint er für die Boulevardpresse qualifiziert. Denn England gegen Brasilien auf das Duell seiner Verteidiger gegen Rivaldo, Ronaldo und Ronaldinho zu reduzieren, ist etwas eindimensional. Mindestens genauso entscheidend wird etwa sein, ob Nicky Butt und Paul Scholes Brasiliens Passspiel im Mittelfeld aufbrechen können.

Es wird auf jeden Fall ein großes Spiel. Wie selten solche Klassiker sind: Deutschland gegen Brasilien gab es noch nie bei einer WM, England gegen Brasilien auch erst dreimal, zuletzt vor 32 Jahren. Man konnte das Spiel schon fühlen, zwei Tage davor im Trainingscamp auf Awaji. Die Aufregung und die Vorfreude strahlten ab von Englands Spielern - und dieses dritte Gefühl: dass sie gewinnen werden. Vermutlich ist Brasilien rein sportlich gesehen das bessere Team. Aber das ist irrelevant. Weil sich England für besser hält. Einbildung macht Sieger.

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