Hintergrund:Die gemästeten Henker

Lesezeit: 4 min

Italien weint Versalien: ein Mosaik über Reaktionen am Tag nach Südkorea.

Birgit Schönau

(SZ vom 20.6.02) - Am 17. Juni 2002 beschließen die beiden Kammern des römischen Parlaments einstimmig eine Änderung der Verfassungspräambel. Statt "Italien ist eine auf der Arbeit gegründete, demokratische Republik", heißt es nun: "Italien ist eine auf dem Fußball gegründete Republik." Die Abgeordneten applaudieren stehend dem Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi, der das als erster verstanden hatte.

Italiens Di Livio, Vieri und Gattuso nach Südkoreas Golden Goal, dass sich Schiedsrichter Morena notiert (von links). (Foto: N/A)

Berlusconi kaufte seinerzeit zunächst den Fußballklub AC Mailand und führte dann die Schlachtenbummlerbewegung "Forza Italia" zu einem grandiosen Wahlsieg. Der zur Weltmeisterschaft entfliegenden Nationalmannschaft gab er mit auf den Weg: "Kommt als Sieger heim, oder ich stecke euch in den Knast." Einer musste laut lachen, Fabio Cannavaro. Der kommt aus Neapel. Dort heißt die örtliche Haftanstalt wegen der Vorzugsbehandlung für inhaftierte Mafia-Paten und Fußballspieler "Hotel Poggioreale".

Tränen

Am 18. Juni 2002 geschieht Ungeheuerliches. In der Schweizer Schule zu Rom kommt der Unterricht zum Erliegen. Die Lehrer haben ihre privaten Fernseher in die Klassenräume getragen und schauen gemeinsam mit ihren Schülern das Spiel Südkorea - Italien. Viele Kinder haben sich die italienische Trikolore ins Gesicht gemalt und tragen die Trikots der Nationalspieler. Später werden sie weinend auf dem Schulhof hocken.

Ein Achtjähriger heult Rotz und Wasser, weil sie ihm gesagt haben, er sehe aus wie der Schiedsrichter Moreno aus Ecuador, der ein reguläres Tor von Tommasi nicht anerkannte und den römischen Gladiator Totti wegen einer angeblichen Schwalbe vom Platz stellte. Die Schulleitung versichert, das geplante Schulfest werde trotzdem stattfinden, und die Schweizer Fahne werde auch nicht auf Halbmast gefahren. Trotz alledem ist die Schweiz ja ein neutrales Land.

Wut

Neutral? Von wegen!!! Sepp Blatter heißt der Marionettenspieler, der "das Püppchen aus Ecuador" (Gazzetta dello Sport) tanzen ließ. Alte Rechnungen zwischen Italien und den Herren der Fifa und der Uefa seien im Stadion von Daejon beglichen worden, mutmaßt die größte Sportzeitung. "Italien hat keine Macht mehr in jenen Versammlungen, wo Spielergebnisse entschieden und Milliardengeschäfte beschlossen werden."

Die Unparteiischen dieser Welt - bewegt von der perfiden Schweiz. Die Fifa - ein korrupter Verein. Blinde Linienrichter aus "der Dritten Welt des Fußball" (Gazzetta), die fünf reguläre italienische Tore annullieren dürfen, damit ihre Ländervertreter weiter für Blatter stimmen. "PIERLUIGI COLLINA NACH HAUSE! AUF DIESER SCHÄNDLICHEN VERANSTALTUNG DARF KEIN ITALIENER MEHR PFEIFEN!" (Corriere dello Sport).

Ärger

"Sie haben unsere Mannschaft gekillt, und ich hoffe, dass Italien bei der nächsten WM nicht mehr mitmacht!" (Gazzetta-Leser Rocco Pierri). "Wie werden uns fein überlegen, ob wir noch einmal die WM-Übertragungsrechte kaufen. Wir mästen doch nicht unsere eigenen Henker" (Paolo Francia, Sportchef der staatlichen RAI).

"Unser nächster Gast ist ein Tenor aus. . . Korea. Ich habe aber jetzt nicht das Herz, ihn ins Studio zu führen. Alles hat Grenzen. Ich bin eine Tifosa Italiana." (Das Showgirl Luisa Corna während der RAI-Sendung Notti mondiali). "Es tut mit alles so Leid" (der Tenor). SCHWACHKOPF!!! (RAI-Reporter Carlo Paris während des Matchs über den Unparteiischen aus Ecuador) SCHANDE! (Gazzetta) DIEBE! (Corriere dello Sport) SCHMUTZ! (Corriere della Sera) WUT! (La Repubblica), VERDAMMTES KOREA! (Il Mattino).

Entschuldigung

Es ist kurz vor Mitternacht, als sich der Botschafter Ecuadors in Italien, Arturo Gangotena, formell entschuldigt. "Die Rote Karte für Totti war falsch", lässt seine Exzellenz der Nachrichtenagentur ANSA mitteilen, verbunden mit dem Trostwort, er selbst habe die ganze Zeit zu Italien gehalten. Wie übrigens ganz Ecuador: erst die Azzurri die einzige Partie bei der WM gewinnen lassen, dann mit einem überflüssigen Treffer gegen Kroatien den Italienern die Qualifikation für das Achtelfinale besorgen.

Und dann kommt der kleine, dicke Moreno, der "20 Kilo zu viel hat, um als Schiedsrichter arbeiten zu dürfen" (Alessandro Nesta), dem "ich allzu gern die Fresse poliert hätte" (Angelo Di Livio), "der von Anfang an gegen uns war" (Paolo Maldini). Botschafter Gangotena kann es nicht fassen, dass ein Landsmann so daneben langt: "Es ist unglaublich."

Verbannung

Moreno ist Schuld. Blatter ist Schuld. Beckenbauer ist Schuld (denn er hat behauptet, Totti sei die größte Enttäuschung dieser WM). Carraro ist Schuld, der Verbandspräsident von Berlusconis Gnaden, nach dessen Rücktritt jetzt alle rufen, weil er Italiens Interessen bei der Fifa so halbherzig vertritt, dass Blatter jeden Schiedsrichter seiner Wahl... Ja, Herrgottnochmal, und Jung Hwan Ahn?!?! Nach zwei sehr durchwachsenen Jahren in Perugia plötzlich ein Golden Goal gegen Bella Italia? "Basta! Nie wieder wird der einen Fuß in meinen Verein setzen!" (Perugia-Boss Luciano Gaucci)

Man muss sich das vorstellen: Eingekauft von Pusan I. nach ausgiebigem Studium zweier Videokassetten durch Gauccis Sohn Alessandro. Mit offenen Armen aufgenommen in Umbrien. Sogar eine Wohnung haben sie ihm besorgt, konnte ja kein Wort Italienisch, dieser Koreaner. In 24 Monaten fünf magere Törchen. "Bei uns war er ein bescheidener Reservist", tobt Gaucci senior. "Und dort drüben spielt er wie ein Außerirdischer." Fristlose Kündigung für Ahn. "Schließlich", sagt Gaucci, "bin ich Patriot."

Bekenntnisse

"Wir hätten verdient, zu gewinnen. Das war unser bestes Spiel bei der WM." (Staatspräsident Carlo Azeglio Ciampi) "Sie haben uns den Sieg geraubt!" (Senatspräsident Marcello Pera) "Ich habe in Hemdsärmeln gelitten." (Parlamentspräsident Pierferdinando Casini. "Ich bin niedergeschlagen." (Ministerpräsident und Außenminister Silvio Berlusconi) Der Rest ist Schweigen. Die Ruhe vor dem Sturm. "Berlusconi wird Trapattoni und Carraro rauswerfen und selbst ihre Ämter ad interim übernehmen. Er kann es kaum erwarten." (La Stampa)

Fragen und Antworten

Einer fehlt noch. Trapattoni. Die Faust. Das Weihwasser. Der Vertrag. 1,1 Mio Euro netto im Jahr bis 2004. Aber diese Klausel: "Falls die Azzurri das Viertelfinale erreichen." Was nun, Giovanni? Was soll sein? Nichts wird sein. Wer hat da was gegen Trapattoni?

Weil er Del Piero gegen Gattuso austauscht? Montella, Inzaghi auf der Bank schmoren lässt? Nach einem Treffer klug verteidigt und sonst keine Kraft mehr verschwenden will auf die Koreaner, diese Kinder des Weltfußballs? Signore e Signori, das ist Italien. 3000 Jahre Geschichte. 7000 Jahre Bürokratie. 10000 Jahre Fußball. Muss man erst einmal über den Platz bewegen, als einfacher Nationaltrainer.

Nun ja...

Die Sache mit der Verfassungsänderung war natürlich ein Scherz.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: