Hertha siegt in Wolfsburg:Euphorie nach der Lektion

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In der 90. Minute kann Hertha BSC das Spiel gegen den VfL Wolfsburg durch den Siegtreffer von Dodi Lukebakio (hier mit Robin Knoche) drehen und einen immens wichtigen Sieg erzielen. (Foto: Stuart Franklin/Bongarts/Getty Images)

Die Berliner feiern in letzter Minuten einen immens wichtigen Sieg. Der steht sinnbildlich dafür, wie sich die Hertha unter ihrem vergleichsweise neuen Trainer Jürgen Klinsmann zuletzt wieder Luft im Abstiegskampf verschafft hat.

Von Javier Cáceres, Wolfsburg

Durch einen Treffer eines zuletzt Verbannten sowie ein Tor eines improvisierten Mittelstürmers hat Hertha BSC das Spiel in Wolfsburg gedreht und einen immens wichtigen 2:1-Sieg erzielt. In einer Partie, die über viel zu lange Passagen das Etikett unerträglich verdiente, hatte der eingewechselte Admir Mehmedi die späte Führung für Wolfsburg erzielt (74.) - und dann zusehen müssen, wie Herthas Innenverteidiger Jordan Torunarigha ausglich und Stürmer Dodi Lukébakio den Siegtreffer erzielte, in der 90. Minute. Durch die nunmehr elf Punkte, die Hertha in sieben Spielen unter dem vergleichsweise neuen Trainer Jürgen Klinsmann holte, verschafften sich die Berliner wieder Luft im Kampf gegen den Abstieg. "Für uns ist es ein unglaublich wertvoller Dreier", freute sich Klinsmann.

Man durfte aus vielerlei Gründen gespannt darauf sein, was die Hertha in Wolfsburg bieten würde. Zuvorderst, weil niemand wissen konnte, wie die Elf die heftige 0:4-Pleite gegen den FC Bayern verdaut hatte. Das Mysterium war umso größer, als Hertha sich am Freitag entschloss, die Trainingseinheiten in weitgehend geschlossene Veranstaltungen zu verwandeln. Mit Ausnahme der jeweiligen Aufwärmphasen (20 Minuten) hätten die Hertha-Fans ihren Idolen nicht mehr bei der täglichen Arbeit zuschauen dürfen. Unter dem Eindruck von Protesten der Anhänger korrigierte der Klub diese Maßnahme am Samstagabend allerdings wieder. Die öffentlichen Trainings sollen "wie gewohnt für die komplette Dauer" für Zuschauer und Medien offen bleiben, teilte der Klub mit.

Bahnbrechende Neuigkeiten wurden aber offenbar auch in den vergangenen Tagen nicht einstudiert. Oder kamen, besser gesagt, gegen Wolfsburg nicht zur Aufführung. Und die wichtigste programmatische, das heißt: nicht irgendeiner Not geschuldete Veränderung war vorher durchgesickert. Lukébakio rückte für Davie Selke ins Sturmzentrum, Marius Wolf besetzte die zuletzt von Lukébakio besetzte Rolle als Rechtsaußen. Wolf mit durchwachsenem, Lukébakio mit brutalem Erfolg: mit dem Siegtor.

"Fast das ganze Spiel fand in der Hälfte von Hertha BSC statt", sagt VfL-Coach Glasner

Das Spiel der Hertha knüpfte insofern an Auftritte der jüngeren Klinsmann-Vergangenheit an, als die Berliner wieder extrem defensiv agierten, die Räume noch mehr verknappten als gegen die Bayern. Das lag auch daran, dass mit Skjelbred neben Santiago Ascacíbar zwei ausnehmend destruktive Sechser agierten. Hertha brauchte ein paar Minuten, ehe das Team Tritt fasste. Es half dabei natürlich auch die Kompromisslosigkeit der beiden Sechser. So entspann sich letztlich eine Partie, die unter qualitativen Gesichtspunkten nur ansatzweise Format hatte. Aktionen, die sich am Rande der Kategorie veritable Torgelegenheit bewegten, ergaben sich vor allem aus Distanzschüssen, für Hertha durch Außenstürmer Javairo Dilrosun, für Wolfsburg wiederholt durch Maximilian Arnold oder auch Kapitän Josuha Guilavogui.

Bemerkenswert war nach der Halbzeit zunächst das Übergewicht, das sich der VfL Wolfsburg erspielte - "fast das ganze Spiel fand in der Hälfte von Hertha BSC statt", sagte VfL-Trainer Oliver Glasner - , und dann die formidable Machart des Wolfsburger Tors: Der eingewechselte Mehmedi schickte eine Hereingabe in den Strafraum der Berliner, Mittelstürmer Wout Weghorst aber tauchte unter dem Ball hindurch wie unter einer Welle, statt ihn zu berühren. Der Effekt war für Hertha fatal: Torwart Rune Jarstein war entscheidend irritiert, der Ball zappelte im Netz des Berliner Tores.

Dass Hertha zurück ins Spiel fand, durften sich die Wolfsburger danach vor allem selbst zuschreiben. Sie ließen eine Chance zum 2:0 durch Renato Steffen liegen und wurden wie schon in der Vorwoche bei einem Eckstoß düpiert. Diesmal trat ihn Maximilian Mittelstädt, und der U21-Nationalverteidiger Jordan Torunarigha köpfelte den Ball ins Tor. Sein erster Gratulant war der Innenverteidigerkollege Niklas Stark, der vor Klinsmanns Amtsantritt Nationalspieler war, dann aber zeitweise zum Reservisten mutierte.

Die Euphorie der Berliner hätte Arnold mit einer neuerlichen Chance fast abgewürgt. Doch dann ereignete sich etwas Außergewöhnliches: Hertha reihte erstmals in der Partie drei Direktpässe aneinander. Der Ball wanderte vom soliden Ascacíbar auf Marko Grujic, der den Ball hinausspielte auf Alexander Esswein, und dieser bediente Lukébakio. Allein: Aus fünf Metern drosch der Belgier den Ball auf VfL-Torwart Casteels, der Ball flog über die Querlatte ins Aus (87.).

Dann aber schlug sich das Glück doch auf die Seite der Berliner. Herthas Rechtsverteidiger Klünter verlängerte eine Flanke von Grujic auf Lukébakio, von dessen Scheitel sprang der Ball ins Tor. "Am Ende haben meine Spieler es sich verdient", behauptete Klinsmann. "Wir haben letzte Woche eine Lektion vom FC Bayern erhalten. Heute hatten wir ein bisschen Glück. Aber die Jungs haben kapiert, worum es geht." Unabhängig davon blieben die Wolfsburger ratlos zurück. "Die Lage ist mehr als kompliziert", sagte VfL-Geschäftsführer Jörg Schmadtke. "Wir müssen die richtigen Antworten finden, im Moment scheint das nicht zu gelingen."

© SZ vom 26.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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