Helfer bei der Tour:Schachfiguren reden nicht

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Zwischen Despoten und freundlichen Dirigenten: das einfache und doch komplizierte Leben der Domestiken. Von Andreas Burkert

Jonathan Vaughters verdient sein Geld nicht mehr als Radprofi, dabei ist er erst 32. Vaughters assistierte 1999, als Lance Armstrong zum ersten Mal die Tour gewann, doch am Saisonende verabschiedete ihn sein Chef ziemlich resolut. Vaughters weiß, weshalb ihn Armstrong davon jagte wie einen Ladendieb - er hatte ein Gesetz der Branche ignoriert: Achte die Hierarchie deines Teams wie deinen Nächsten, so in etwa lautet das oberste Gebot, doch Vaughters hatte bei der Dauphiné Libéré verblüffend anarchisch dagegen verstoßen: Armstrongs damaliger Helfer trachtete tatsächlich nach einem Etappensieg, obwohl er als Begleiter des Kapitäns eingeteilt war. Armstrong feuerte ihn gnadenlos, trotz der dreiwöchigen Selbstaufgabe des Rebellen bei der Frankreich-Rundfahrt.

Hierarchien sind in sozialen Systemen oftmals gleichbedeutend mit Herrschaft und Autorität, doch nirgends sonst im Sport wird der pyramidenartige Strukturaufbau so extrem interpretiert wie in der Velosparte. Deren Leitidee lautet: Unterwerfe dich dem Despoten. Armstrong hat auch in dieser Beziehung Maßstäbe gesetzt, sein früherer Helfer (und heutiger Phonak-Kapitän) Floyd Landis erzählt: "Es gibt keine Freundschaften, wenn der Chef nur Befehle erteilt und andere dirigiert." Jan Ullrich hat sich auch in dieser Hinsicht als Gegenentwurf bezeichnet, als er jüngst eingestand, er sei "vielleicht zu lieb für manchen Toursieg gewesen". Er findet sich "menschlich".

Die freie Fahrt verweigert

Jörg Jaksche hat allerdings gelitten unter der strikten Aufgabenverteilung in Ullrichs Rennstall und früh das Weite gesucht wie nun auch Alexander Winokurow, den selbst die Rolle unter dem freundlichen Dirigenten zu sehr einengt. Doch in diesen Tagen erlebt Jaksche, dass er nicht Gefangener einer Werkssportgruppe gewesen ist, sondern eher seines Sports. Der Ansbacher Arztsohn ist als Legionär bei Liberty Seguros angestellt, dessen Hauptdarsteller der frühere Vuelta-Sieger Roberto Heras sowie der zweimalige Tourzweite Joseba Beloki sein sollten. Allerdings ist den Spaniern bereits in den ersten Bergen ganz fürchterlich die Luft ausgegangen, während sich Jaksche vorne hielt. Nach den Alpen steuerte er eine Platzierung unter den ersten Zehn an, doch bei Liberty gibt nur er die Richtung vor: Manolo Saiz, 45, der Choleriker aus Torrelavega, er verweigerte Jaksche die freie Fahrt. Jaksche sagt vorsichtig: "Manolo ist der große Chef, er bezahlt uns dafür, dass wir wie Schachfiguren funktionieren." Und Schachfiguren reden nicht.

Ein wenig ist Jaksche ja auch selber schuld, dass er zurückgekehrt ist zu Senor Saiz, dem er bereits nach seinem Telekom-Engagement diente. 2004 fuhr der Franke für CSC, wo Teamchef Bjarne Riis das Personal "wie erwachsene Menschen" behandele. Der Däne Riis, ergänzt Jaksche, habe ihm geholfen, "als Mensch und Sportler zu reifen". Jaksche wird am Samstag 29 und gesteht, die bis 2007 besiegelte Rückkehr zum Antidemokraten Saiz "hätte im Endeffekt nicht sein müssen". 2004 hatte er unter Riis Paris - Nizza gewonnen, doch bei Liberty musste er nun wieder allzu lange den Knecht der überbezahlten Leader geben.

Dabei liegt Heras mehr als eine Stunde hinter Jaksche, Beloki sogar rund 90 Minuten. Erst Anfang der Woche befreite ihn Saiz von den Domestikendiensten und räumte dem Deutschen ein, "mal was versuchen zu dürfen". Wie etwa Jörg Ludewig, der gewöhnlich unauffällig für Domina Vacanze schuftet. Dort indes herrscht derzeit untypische Anarchie, seitdem Kapitän Sergej Gontschar aufgeben musste. Der Ostwestfale sagt begeistert: "Das macht Spaß, jeder darf seine eigene Chance suchen!" Für Jaksche indes kommen die verflachten Hierarchien zu spät, er klagt leise: "Jedes Korn, was du hier auf die Straße schmeißt, ist verloren." Er kann jetzt einfach nicht mehr.

Vorgesetzte wie Armstrong oder Saiz gelten weiterhin als Ideal des Radsports, "das ist ein traditioneller Sport", sagt Jaksche und zitiert aus dem inoffiziellen Gesetzestext: "Bei uns gibt es feste Hierarchien, jeder hat seinen Rang und seine Aufgabe." Riis' demokratische Variante sei "etwas völlig Neues, der Rest lebt mit eingefahrenen Strukturen, nach dem Motto: Das war vor 20 Jahren so, also ist es auch heute noch so."

Des Wortbruchs bezichtigt

In die Vergangenheit zurückversetzt fühlt sich derzeit auch Patrik Sinkewitz, dessen zum Tourstart veröffentlichter Wechsel von Quick Step zu T-Mobile seinem aktuellen Chef Patrick Léfevère übel aufstieß (SZ vom 4.7.). Seitdem redet der graumelierte Belgier nicht mehr mit dem Hessen und bezichtigt ihn des Wortbruchs. Sinkewitz, 24, fühlt sich gemobbt und hält sich bei seinem Tourdebüt dezent im Hintergrund. "Es denkt immer noch der Kopf", sagt er, die Situation hemme ihn. Er solle mal eine Etappe gewinnen und nicht Dienst nach Vorschrift schieben, solche Dinge hört er nun manchmal in den Teamsitzungen von Quick Step. Dabei ist er sich sicher: "Was ich hier mache, interessiert die doch gar nicht mehr." Sinkewitz fürchtet nun sogar, nach der Tour keine Rennen mehr bestreiten zu dürfen, womit er seinen Titel bei der Deutschlandtour nicht verteidigen könnte. "Sicher kann ich mir jedenfalls nicht sein", sagt er, und das gelte wohl auch für den rechtzeitigen Gehaltseingang. Denn Herr Léfevère ist weiterhin sehr wütend.

Früher indes wäre jemand wie Sinkewitz gar nicht hier, denn damals waren bei der Tour nur Profis erwünscht, die sich bereits fürs nächste Jahr verpflichtet hatten. Walter Godefroot, 62, ist so ein Mann vom alten Schlag, ihm ist Loyalität stets wichtig gewesen. "Kann ich mich auf ihn bedingungslos verlassen, solche Fragen habe ich mir gestellt", erzählt der scheidende Teammanager von T-Mobile. Wenn er sich nicht ganz sicher war, nominierte er lieber jemanden mit langfristigem Kontrakt. Sein Nachfolger Olaf Ludwig ist diesmal legerer verfahren, indem er Matthias Kessler trotz einer Hängepartie nominierte. Ludwig, 45, sagt: "Dieses Gesetz gibt es jetzt eben nicht mehr." Doch an den Hierarchien seines Sports wird Ludwig kaum rütteln wollen. Er ist bald Chef.

© SZ vom 22.7.2205 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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