Handball:Saurier im Finale

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Lange Zeit sah es danach aus, als würde das Spiel gegen Russland ähnlich dramatisch verlaufen wie vor zwei Tagen gegen Spanien. Doch es kam anders: Dank des herausragenden Torwarts Fritz und ihrer Abwehr erreichen die deutschen Handballer das Endspiel gegen Kroatien.

Warum dauert ein Handballspiel offiziell 60 Minuten? Warum wird es nicht verkürzt? Warum spart man sich nicht einfach das Vorspiel und belässt es bei den letzten fünf Minuten? Die aber können durchaus ewig dauern. Im Viertelfinale, gegen Spanien, wurden sie um zwei Verlängerungen und ein Siebenmeterwerfen erweitert. Zeit genug, um alle Handlungsebenen eines Dramas einzubauen.

Auch im Halbfinale hat es die Mannschaft von Heiner Brand gestern lange versucht, die Partie ins Unendliche zu verlängern. Eine Dreiviertelstunde lang sah es nach einer Fortsetzung des Dramas aus, doch dann hatten einige aus der DHB-Auswahl etwas dagegen. Sie wollten keine Wiederholung. Sie wollten nicht noch einmal bis in die letzten Sekunden leiden.

Aufeinandertreffen der Routiniers

Die Abwehr der Deutschen wurde zur Mauer, und an den Stellen, die porös waren, stopfte Torwart Henning Fritz mit Bravour die Löcher. Vorne tauchte plötzlich Christian Zeitz auf, der 23-Jährige vom THW Kiel, dessen unorthodoxe Würfe in keinem Lehrbuch stehen. All die anderen fanden mit ihm zu Phantasie und Lockerheit. So war auf der Uhr Beruhigendes zu lesen, als die letzten fünf Minuten eingeläutet wurden: 17:14. Bei Schlusspfiff stand es 21:15. Nur 15 Gegentore! Gegen die Russen! Das ist eine unglaubliche Zahl. Schon wegen dieser Zahl ist die Teilnahme am Endspiel am Sonntag hoch verdient. Nur im Angriff, da dürfen sie sich steigern.

Es war schon so viel bekannt gewesen, vorher, bevor die Partie so recht ins Rollen kam. Der Endspielgegner für den Sonntag (15.45 Uhr MESZ) stand bereits fest, es sind die Kroaten, nachdem sie mit 33:31 im ersten Halbfinale gegen Ungarn triumphiert hatten. Auch stand fest, dass der deutsche Rückraum geschwächt sein würde, nachdem Pascal Hens (Entzündung der Bandscheibe) für die Partie absagen musste. Und es war bekannt, wer sich da in Athen gegenüber steht, denn kaum zwei Mannschaften kennen sich besser als die Russen und die Deutschen.

Sie sind die routiniertesten Teams des Turniers, wobei die Russen noch ein bisschen routinierter wirken, schon allein wegen ihres so erstaunlichen Alters: Torwart Andrej Lawrow ist 42, Linkshänder Aleksandr Tutschkin, 40. Wie gegen so eine Mannschaft zu spielen ist, steht vorher auf der Taktiktafel. Bundestrainer Heiner Brand ("Die Russen liegen uns - eigentlich") hatte seinen Spielern Tempohandball verordnet.

Was die Deutschen wollten, war von der ersten Minute zu erkennen, nur wie sie es umsetzten, wirkte zunächst nicht souverän. Jeder Ball wurde blitzschnell nach vorne transportiert, doch wenn er dann an Gegners Kreis angelangt war, wirkte die Rezeptur nicht mehr. Serienweise vergab die deutsche Mannschaft beste Chancen, traf Torwart Lawrow, traf Latte und Pfosten, und da die Russen es kaum besser machten, stand da zur Halbzeit ein für den modernen Handball eher bescheidenes Resultat zu lesen: 9:10 aus Sicht der Deutschen.

In diese Zahlen waren bereits kleine Geschichten verborgen. Die deutschen Außen, Stefan Kretzschmar auf links, Florian Kehrmann auf rechts, die eigentlich Hauptdarsteller sind, die aber gegen Spanien in Serie daneben zielten, fanden gut ins Spiel. Die ersten fünf Tore gingen auf ihr Konto. Alle anderen hatten anfangs zittrige Hände. Ob Zerbe es mit einem Aufsetzer versuchte, Stephan auf den Winkel zielte oder Zeitz es mit Urgewalt riskierte - stets fanden sie in Lawrow ihren Meister. 18 Minuten und 18 Sekunden dauerte es, bis neben der Flügelzange Kretzschmar/Kehrmann noch ein anderer traf, Markus Baur überwand zuerst seinen Wurfkomplex.

Zur Halbzeit stellten sich Fragen. Beide Mannschaften, die Saurier des Turniers, waren vom Wettbewerb gezeichnet. Welche würde die bessere Kondition aufweisen? "Ich will Gold", hatte Christian Schwarzer vor Anpfiff gesagt, und der Kreisläufer vom TBV Lemgo setzte nach der Pause das erste Signal. Er wuchtete den Ball zum 10:10 ins Netz. Wo aber blieb die Führung? Weiterhin wirkten die Angriffsaktionen fahrig, bekamen die Deutschen ihre Nervosität nicht in den Griff.

Schnell hatten die Russen ihren Vorsprung wieder, 12:10, und den wollten sie verwalten. Sie hielten den Ball, übernahmen die Herrschaft über die Zeit. Aber wie das im Handball so ist, ein Spiel verläuft in Wellen, Hoch und Tief wechseln oft in unerklärlich schneller Folge - exemplarisch dargestellt durch Stefan Kretzschmar. Seine Tore brachten das DHB-Team schnell heran, doch in Minute 44 war er es, der beim dritten von vierten Siebenmeter scheiterte: 13:13 - ein Seiltanz zwischen Hoffen und Bangen begann. Diesmal aber mit ruhigem und schönen Finale.

© Süddeutsche Zeitung vom 28.8.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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