Fußball-WM:Im Rausch der Erwartungen

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Die WM 2006 hat vom Alltag der Bundesliga Besitz ergriffen: So zählt für Michael Ballack die Nationalelf noch mehr als der Verein. Trainer Magath hält das für falsch.

Von Philipp Selldorf

Per Mertesacker, 20, hätte im Prinzip jeden Grund, verrückt zu werden. Mit der Erfahrung von einer Handvoll Bundesligaeinsätzen hat der Verteidiger von Hannover 96 eine Erfolgsgeschichte in der Nationalmannschaft erlebt, die so geschwind passierte, dass sie der Fantasie eines Romans entstammen könnte.

Bundestrainer Jürgen Klinsmann sagt, er sei "begeistert" von Mertesacker, für Deutschlands Weltmeisterschaftsteam gilt er bereits als unentbehrlich, und adidas hat auch schon einen Werbevertrag mit dem langen Mann abgeschlossen - ein profitables Privileg, das Abwehrspielern nur selten zuteil wird. Auf dem Weg zur WM entwickeln sich deutsche Fußballerkarrieren in verwirrendem Tempo, da ist Mertesacker nur eines von einigen Beispielen.

Aber um den Juniorprofi aus Hannover macht sich Felix Magath die wenigsten Sorgen, wenn er den Rummel um die WM 2006 beklagt. Mertesacker sehe er, wie dessen Altersgenossen Robert Huth, "als Ausnahme", sagt der Trainer des FC Bayern: "Denen schaden die Nationalmannschaftseinsätze nicht." Bei anderen Fußballern hat Magath eine andere Ansicht gewonnen, und er muss erkennen, dass es vor allem um solche geht, die in seinem Team stehen.

"Die Spieler werden und sind zu sehr auf die Nationalmannschaft fixiert", sagt er, "dadurch, dass das Thema so bedeutsam gemacht wurde, können sie sich nicht mehr auf ihren eigentlichen Job konzentrieren."

Anderthalb Jahre vor dem Anstoß des Turniers hat das Ereignis längst Besitz ergriffen vom Alltag im deutschen Fußball, Wirtschaft, Kommunen, Politik und Medien befinden sich in einem Rausch der großen Erwartungen, die Branche sowieso. Da wirkt es, als seien die verbleibenden Bundesligarunden nur noch ein Vorspiel der WM und ein Forum für das Schaulaufen der Kandidaten, die beim Kampf um den goldenen Weltpokal mitmachen dürfen, "das ist ja bald eine Hysterie", findet Magath.

Kein Spieler ist mehr davor sicher. Gestern erst musste sich Alexander Zickler, 30, fragen lassen, ob er denn auch von dem Wunsch beseelt sei, an der WM 2006 teilzunehmen. Zickler, der seit 22 Monaten wegen dreier Beinbrüche kein Bundesligaspiel hat bestreiten können und froh darüber ist, dass er in den Testpartien drei Halbzeiten ohne Schmerzen hat kicken können, antwortete mit der gebotenen Vorsicht, dass er "daran lieber noch nicht denken möchte".

Kein Bremsen im WM-Wahn

Fast jeder Fußballer mit deutschem Pass, der beim FC Bayern beschäftigt ist, ist ein potentieller Teilnehmer am deutschen Schicksalsturnier. Magath empfindet das als zunehmend problematisch.

Kahn, Görlitz, Frings, Deisler, Schweinsteiger, Ballack, demnächst kommt noch Lahm dazu - die Liste ist länger als die des Schalker Kollegen, wie Magath feststellt. "Rangnick ist in einer guten Situation", sagt er, und was da ein wenig schwermütig klingt, das ist in Wahrheit der fatalistische Glaube, dass ihm in diesem Punkt der Einfluss entzogen ist.

Den WM-Wahn noch bremsen oder steuern zu wollen, "dafür ist es zu spät", fürchtet er, "die neue, gute Stimmung (um die Nationalelf), die hat nun alles überwältigt."

Die Spieler lassen sich davon gern mitreißen, für die Vereinstrainer wird die Sache jedoch schwierig. Arminia Bielefeld ist zwar stolz darauf, erstmals seit Roland Maul wieder einen Nationalspieler im Team zu haben und freut sich darüber, dass der Verkauf von Patrick Owomoyela einen Extra-Bonus bringen wird. Aber ob Owomoyela mit der Enttäuschung umgehen kann, wenn sein rapider Aufstieg vom Zweitliga- zum Nationalspieler unterbrochen würde?

Eine Art Massensuggestion hat in der Liga eingesetzt, meint Magath: "Wenn so viele junge Spieler in der Nationalmannschaft spielen, die in der Bundesliga bisher kaum in Erscheinung getreten sind, dann ist das natürlich für die anderen ein Signal. Die denken dann: Das kann ich auch. Wenn ich zwei-, dreimal gut spiele, bin ich halt auch dabei."

Auch bei den Profis des FC Bayern haben sich, so hat er beobachtet, einige Prioritäten verschoben. Dass etwa Michael Ballack die Deutschland-Elf höher schätzt als sein Vereinsteam, sieht der Trainer mit Kummer. "Aber er müsste dann auch in seinem Verein, in dem er nicht der Kapitän ist, die gleiche Verantwortung übernehmen wie in der Nationalelf.

Aus meiner Sicht ist es eine verkehrte Einstellung. Die Nationalmannschaft darf nicht wichtiger sein als der Verein, wo ich meinen Lebensunterhalt verdiene." Magath würde gern sehen, wenn Ballack auf ab und zu auf ein Länderspiel verzichten würde, aber Ballack betrachtet 2005 als das Jahr, "in dem wir unseren Standpunkt (vor der WM) testen. Da will jeder Spieler in jedem Spiel dabei sein - ich auch."

Sebastian Deisler würde sich sofort anschließen, die Nationalelf ist mehr denn je sein fixes Ziel. Kein Wunder, meint Magath, "er wird ja von allen als der gesehen, der in der Nationalelf alles machen soll." Alle? Wer sind alle? "Alle Fußballinteressierten," erwidert Magath sarkastisch, "das ganze Land - außer den Spielern des FC Bayern, Hoeneß, Rummenigge und mir." Und dabei dauert es noch anderthalb Jahre, bis die Welt zu Gast in Deutschland ist.

© SZ vom 20.1.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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