Fußball-Nationalmannschaft:Keine Hysterie um die wichtigste Zehe

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Bernd Schneider fällt weniger auf als Michael Ballack, ist aber ähnlich bedeutsam für den Erfolg gegen Island.

(SZ vom 10.10.2003) — Deutschland hat Schmerzen an einem seiner empfindlichsten Punkte: auf der dicken Zehe am rechten Fuß von Bernd Schneider. Es ist zwar nur eine Prellung an einem selten diskutierten Körperteil, aber leider drückt sie auf eine neuralgische Stelle, denn auf diese Zehe kann Schneider nicht verzichten, wenn er aus aus dem rechten Mittelfeld Flanken schlägt.

Das Training vor dem EM-Qualifikationsspiel gegen Island am Samstag in Hamburg (17Uhr/ZDF) musste er sich deswegen bisher versagen. Stattdessen kümmern sich die Mediziner in Reinbek mit allen Techniken um die an anderen Knochen nebensächliche, an diesem Ende aber bedrohliche Blessur. Schneider erhält Lymphdrainagen und Ultraschallbehandlung, und nachts wird die verletzte Extremität in einen Salbenverband gewickelt.

Die Leiden der Profis

In allen Zeiten haben solche Leiden der Profis die Fußballnation bewegt. So wie einst der Muskel von Lothar Matthäus "zugemacht" und dadurch Schrecken im ganzen Land verbreitet hat, ängstigt es heute die Freunde der Nationalelf, wenn es in Michael Ballacks Wade zieht. Als die Deutschen im Sommer auf den Färöer-Inseln spielen mussten und der Münchner plötzlich erneut Beschwerden spürte, war dies eine Spitzenmeldung, die bei sämtlichen Mitreisenden Betretenheit auslöste.

Zuletzt waren Ballacks Anfälligkeiten tagelang Gegenstand einer sportpolitischen Grundsatzdebatte. Aber wer redet über die Gefahren, die von Schneiders weher Zehe ausgehen? Nie würden die Fünf-Uhr-Nachrichten darüber berichten. Darüber geht sogar der fürsorgliche Teamchef Rudi Völler zügig hinweg, wenn er - wie am Mittwoch - das Bulletin verliest und Schneider irgendwo hinter Carsten Ramelow auflistet.

Unter anderem liegt das daran, dass Bernd Schneider, 29, zwar öfter angeschlagen ist, aber selten wegen Verletzungen Spiele versäumt. Und vielleicht ist auch die Einsicht nicht weit genug verbreitet, dass die Nationalelf auf Schneiders Eingebungen ähnlich dringend angewiesen ist wie auf Ballacks Regiearbeiten.

Ballack zieht die Blicke auf sich, Schneider hingegen ist keine sonderlich öffentliche Figur, und ihm ist das auch recht so. Er betrachtet sich selbst "als den eher ruhigen Typ" und versichert: "Ich steh' nicht so gern im Mittelpunkt." Auch deshalb will er von der These nicht viel hören, dass die Vorstellungen der Nationalelf häufig die Tagesleistungen Ballacks und Schneiders spiegeln - läuft es bei den beiden im Mittelfeld, funktioniert das ganze Teamgefüge.

Schneider aber widerspricht relativ energisch: "Es bleibt immer ein Mannschaftssport, in dem jeder seine Leistung bringen muss. Wenn Michael oder ich drei Tore schießen, dann nützt uns das nichts, wenn wir hinten fünf Stück bekommen."

Auf dem Platz ist Schneider zum Glück weniger zurückhaltend. Er gehört der raren Sorte von Fußballern an, die ein Match als Rausch erleben können, so wie vor zwei Monaten beim Test gegen Italien. Und weil er auch die technischen Mittel dazu besitzt, erreicht der Ausdruck seines Spiels hohes Niveau. Trotzdem darf man ihn nicht bei den verletzlichen Ballkünstlern einreihen.

Ein Artist wie Pierre Littbarski ließ den Zuschauer nach den ersten drei Ballkontakten wissen, ob er einen guten oder schlechten Tag hat. War ihm das erste, zweite Dribbling gelungen, würde man Spaß an ihm haben. Schneider sagt über sich, er lasse sich "nicht runterziehen, wenn ich mal ein paar schlechtere Szene hatte. Ich bin immer in der Lage, eine Situation zu erkennen, einen Gegner auszuspielen, einen tödlichen Pass zu spielen oder selbst ein Tor zu schießen."

Ein taktisches Objekt

Womöglich lässt sich auf diese robuste Haltung zurückführen, dass Schneider von seinen Trainern mit einer gewissen Hemmungslosigkeit als taktisches Objekt benutzt wird. Zuletzt hat ihn Klaus Augenthaler in Leverkusen als rechten Verteidiger eingesetzt. Schneider erklärt dazu zwar, dass er sich im rechten Mittelfeld am wohlsten fühlt, doch er fügt auch hinzu: "Aber wenn es sein muss, spiel' ich auch links hinten."

So denkt und spricht der Berufsfußballer, und das kann immerhin hilfreich sein in schwierigen Tagen. Im Sommer war Schneider etwas durcheinander, als ihn sein Verein Bayer Leverkusen wegen Geldmangels zum Verkauf anbot. Seine Meinung war dabei nicht sonderlich gefragt, aber persönlich nimmt er das nicht: "Wenn man Geld braucht, muss man sich von seinen besten Möbelstücken trennen." Nach Ablauf seines Vertrages 2005 will er ohnehin in eine andere Liga wechseln.

Im Ausland hat er einen guten Ruf. Beim Weltmeisterschafts-Finale in Yokohama haben ihn die Reporter nicht nur aus Deutschland als den besten Brasilianer auf dem Platz gewürdigt. "Ein Kompliment, ja", brummt Schneider, "aber das hat mir nichts gebracht. Ich wäre lieber der schlechteste Deutsche gewesen und Weltmeister geworden." Ein echter Teamspieler halt - solange die dicke Zehe ihn trägt.

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