Frauen:Auffällige Rückschritte

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Das spektakuläre 1500-Meter-Rennen der Frauen wird überschattet von neuen Debatten um die hyperandrogene Ausnahme-Läuferin Caster Semenya, die die Bronzemedaille gewinnt.

Von Joachim Mölter, London

Das 1500-Meter-Finale der Frauen bei der Leichtathletik-WM in London war sowieso mit jeder Menge Bedeutung aufgeladen, da hätte es der Teilnahme von Caster Semenya nicht auch noch bedurft. "Eine der vielen Kontroversen während meiner Karriere", sagte die Amerikanerin Jenny Simpson, 30, achselzuckend, als sie erfahren hatte, dass die wegen ihres Geschlechtsstatus umstrittene 800-m-Olympiasiegerin aus Südafrika auch auf der fast doppelt so langen Mittelstrecke antritt: "Den Regeln zufolge darf sie mitmachen, und ich werde versuchen, sie zu schlagen."

Das ist Jenny Simpson am Montagabend tatsächlich gelungen. In einem mitreißenden Endspurt kam sie zwar nicht mehr an der Olympiasiegerin Faith Kipyegon, 23, aus Kenia vorbei, die in 4:02,59 Minuten ihren ersten WM-Titel rettete. Aber sie hielt auf den letzten Metern Semenya auf Distanz, und die wiederum verdrängte mit einem bemerkenswerten Endspurt die Britin Laura Muir von den Medaillenplätzen. Die Weltjahresbeste Sifan Hassan, geboren in Äthiopien und startend für die Niederlande, sowie die Weltrekordlerin und Titelverteidigerin Genzebe Dibaba (Äthiopien) spielten da längst keine Rolle mehr.

Die umstrittene 800-Meter-Seriensiegerin Caster Semenya (Zweite von links) spurtete bei ihrem ersten großen Finale über 1500 Meter noch auf Platz drei. (Foto: Adrian Dennis/AFP)

Es wird in diesen WM-Tagen von London immer wieder an Olympia 2012 an selber Stelle erinnert, vor allem an das 1500-Meter-Finale der Frauen. Das gilt mittlerweile als schmutzigstes Rennen der Leichtathletik-Geschichte, sechs der ersten neun Läuferinnen sind des Dopings überführt worden. Das IOC weiß noch immer nicht, welcher Läuferin es nun welche Medaille aushändigen soll. Jenny Simpson war damals in jedem Fall ein Opfer der Betrüger, sie ist im Halbfinale ausgeschieden, ebenso wie die Regensburgerin Corinna Harrer (siehe SZ vom 5. August). Aber bei der Amerikanerin war die Fallhöhe größer: Sie war als Weltmeisterin von 2011 angereist. Und 2013 wurde sie wieder Zweite.

Simpson hat nicht mehr viel jammern wollen über die Vergangenheit, "ich bin immer voller Hoffnung, dass die Funktionäre motiviert sind, den Sport zu säubern", sagte sie vor den Vorläufen. Aber neben dem Wort Doping begleitet längst ein weiterer Begriff die Läuferinnen: hyperandrogen. So nennt man es, wenn eine Frau übermäßig viele männliche Sexualhormone produziert, wie zum Beispiel Testosteron. Caster Semenya muss als Paradebeispiel dafür herhalten. Ob sie will oder nicht.

Vor acht Jahren wurde erstmals über ihren Fall diskutiert, bei der WM in Berlin, wo die heute 26-Jährige erstmals die internationale Laufbahn betrat, mit breiten Schultern und einer tiefen Stimme wie ein Junge. Offenbar hat sie sich danach einige Jahre lang einer Hormontherapie unterziehen müssen, um ihre körpereigene Testosteron-Produktion mittels Medikamenten zu senken - und damit allem Anschein nach auch gleich ihr Leistungsvermögen.

Nun nimmt die Debatte erneut Fahrt auf. Der Internationale Sportgerichtshof Cas hat vor zwei Jahren wegen der Klage einer indischen Sprinterin eine Regel des Weltverbandes IAAF für unwirksam erklärt, die einen Grenzwert für das männliche Hormon definierte; die IAAF sollte die Sinnhaftigkeit dieses Wertes erst mal wissenschaftlich fundiert belegen. Vor der WM veröffentlichte der Verband nun eine Studie des Instituts für Sportmedizin in Monaco, der zufolge Frauen mit einem erhöhten Testosteronspiegel gegenüber ihren Geschlechtsgenossinnen mit normalen Werten Vorteile in Disziplinen wie dem 400- und 800-Meter-Lauf haben. An der Universität von Colorado ist freilich schon eine Gegenstudie in Arbeit; für den dortigen Wissenschaftler Roger Pielke Jr. besagt die IAAF-Studie gar nichts, wie er der Zeitung Evening Standard erklärte: "Spitzenathleten sind immer biologische Ausnahmen, in vielerlei Hinsicht."

Und jetzt? Die IAAF will demnächst wieder einen Vorstoß beim Cas unternehmen, um ihren Grenzwert wieder zu implementieren. Kann sein, dass Caster Semenya und andere hyperandrogene Athletinnen dann wieder eingebremst werden, wenn sie in Frauen-Wettbewerben mitmachen wollen. Die Südafrikanerin wollte sich zu dem Thema nicht äußern. "Das geht jetzt seit acht Jahren so, das ist, als ob man ein Lied immer und immer wieder spielt, es langweilt mich", sagte sie und bekräftigte: "Ich habe keine Zeit für so einen Unsinn, das ist nicht mein Problem. Mein Problem ist, ordentlich zu trainieren und dann zu sehen, was dabei rauskommt."

„Ihr werdet mich in Zukunft häufiger zu sehen bekommen“: Die umstrittene 800-Meter-Seriensiegerin Caster Semenya (Zweite von links) kündigte weitere Starts über 1500 Meter an. (Foto: Ben Stansall/AFP)

Und dann könnte es zum Problem ihrer 1500-Meter-Konkurrentinnen werden, denen versprach sie jedenfalls schon einmal: "Ihr werdet mich in Zukunft häufiger zu sehen bekommen." Mit anderen Worten: Der Ausflug der 800-Meter-Spezialistin auf die 1500-Meter-Distanz soll kein Einzelfall bleiben; das Feld muss sich taktisch wappnen gegen die überlegene Spurtfähigkeit der Südafrikanerin.

Von den Finalistinnen wollte sich keine über Semenya äußern, nicht mal die Vierte Laura Muir. Auch die Schorndorferin Hanna Klein, erste Deutsche seit 1991 in einem WM-Finale über 1500 Meter, hielt sich aus dem sensiblen Thema heraus. "Ich weiß, dass sie eine sehr nette Dame sein soll. Aber eigentlich will ich da nicht weiter drüber diskutieren", sagte sie nach ihrem elften Platz, über den sie sich zu Recht freute: "Ich bin im Finale nicht Letzte geworden, das ist schon was."

Letzte wurde überraschend die Titelverteidigerin Genzebe Dibaba, in 4:06,72 Minuten. Die WM-Debütantin Klein hatte sich bereits im Halbfinale gewundert, dass sie die Äthiopierin im Schlussspurt beinahe über den Haufen rannte. Doch die Weltrekordlerin - gegen ihren Betreuer Jama Aden wird seit einem Jahr wegen möglicher Dopingvergehen ermittelt -, ist bloß ein Schatten jener Läuferin, die vor zwei Jahren noch 3:50,07 Minuten rannte. Es war ein bemerkenswerter Rückschritt, aber der wurde in dem so bedeutungsschweren Rennen an den Rand gedrückt.

© SZ vom 09.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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