FAZ und Olympia:Die fatale Entdeckung der Langsamkeit

Lesezeit: 2 min

Ein Fall für Sherlock Holmes: Warum ein denkwürdiger Olympia-Marathon für die Frankfurter Allgemeine fast zehn Stunden dauerte.

Hans-Jürgen Jakobs

Eine Eigenheit der modernen Nachrichtenwelt ist, dass sie so schnell wurde. Früher - vor Radio, Fernsehen und Internet - hatten Zeitungen viel Zeit, und daran erinnerte die Frankfurter Allgemeine jetzt, als sie von Olympia 1908 in London berichtete. Ja, da musste erst das Zielfoto vom legendären Marathonlauf koloriert und die Daily Mail mit dem Bericht von Sir Arthur Conan Doyle ("Die Abenteuer des Sherlock Holmes") gedruckt werden, ehe die Welt davon erfuhr, historisieren die Hessen.

Pietri torkelt, doch Ärzte und Kampfrichter helfen. (Foto: Foto: SV-Bilderdienst)

Print first: Ein bisschen ist den Zeitgeschichtlern aus der Hellerhofstraße bei der Entdeckung der Langsamkeit offenbar der Schwarmgeist durchgegangen, denn im Text zum Aufmacherbild vom Marathon 1908 und dem ersten Zieleinläufer Dorando Pietri heißt es, der Italiener habe es "nach 9 Stunden und 46 Minuten nur mit Hilfe über die Ziellinie geschafft" und musste "ohne Medaille heimfahren".

9 Stunden und 46 Minuten? In dieser Zeit kann ein durchschnittlicher Wanderer die Marathonstrecke von 42,195 Kilometer, inklusive Pause für die Wurststulle, locker schaffen. Auch Dorando Pietri hat natürlich nicht so lange gebraucht.

Nur noch 355 Meter bis ins Ziel

Tatsächlich war der unglückliche Läufer bereits nach zwei Stunden und 46 Minuten ins Wembley-Stadion zu London gelangt und hatte nur noch 355 Meter zu bewältigen, ehe die Erschöpfung ihm die Sinne nahm. Beinahe wäre er sogar in die falsche Richtung gelaufen. Auf dieser Schlussrunde brach Pietri immer wieder zusammen. Schließlich näherte sich der Amerikaner John Hayes bedrohlich, der zehn Minuten später die Arena erreicht hatte. Da halfen dem torkelnden Italiener einige Ärzte und Kampfrichter ins Ziel, weshalb dem Sportler schließlich der Sieg aberkannt wurde.

Dorando Pietri musste sich mit einem goldenen Pokal begnügen, mit dem die Queen ihn für seine kämpferische Leistung auszeichnete. Sir Arthur Conan Doyle hat gefühlvoll genau darüber geschrieben. Für die denkwürdige Schlussrunde hatte der Beinahe-Sieger insgesamt 9 Minuten und 46 Sekunden gebraucht.

Womöglich hat irgendein Verantwortlicher der FAZ bei den eigenen Abhandlungen über Tempo die Zeitrelationen einfach in der Eile etwas durcheinandergebracht.

Zeit ist, was man sich nimmt

9:46 - das kann ja so viel heißen, insbesondere wenn der Philosoph das vergebliche Mühen der Menschen kommentieren darf. Zeit ist, was man sich nimmt, zum Beispiel fürs Lesen der Zeitung.

"Wer sich am Ziel glaubt, geht zurück" - mit dieser Erkenntnis von Laotse überschrieb die Frankfurter Allgemeine sehr fein- und doppelsinnig ihre zehn handgedrechselten Titel-Zeilen zum Desaster des Dorando Pietri. Es war eine so schön geniale Gedankenbrücke zwischen den Spielen in Peking 2008 (Laotse) und denen in London 2012 (Wembley, Pietri).

Die Frankfurter Redaktion hätte auch eines der anderen schönen Zitate des chinesischen Denkers verwenden können. Wie wäre es zum Beispiel hiermit: "Andere erkennen ist weise, sich selbst erkennen ist Erleuchtung."

© sueddeutsche.de/af - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: