Fan-Gewalt:"Sie sind gekommen, um sich zu schlagen"

Lesezeit: 2 min

Die französischen Behörden reagieren mit Schnellverfahren auf die Ausschreitungen, manchen Experten aber geht das nicht weit genug. Das nächste DFB-Spiel gilt als besonders heikel.

Wegen der Gewalt-Exzesse beim Vorrundenspiel England gegen Russland (1:1) am Samstag in Marseille mussten sich an diesem Montag zehn Fußball-Fans einem Schnellverfahren stellen. Die französische Staatsanwaltschaft beantragte Haftstrafen und ein Einreiseverbot für sechs Briten, drei Franzosen und einen Österreicher. Nicht auf der Anklagebank: Etwa 150 russische Hooligans, die "extrem trainiert" angereist waren, wie Staatsanwalt Brice Robin ausführte: "Sie sind gekommen, um sich zu schlagen." Die Polizei konnte keinen von ihnen festnehmen. Noch aber laufen die Ermittlungen. Es werden Videoaufnahmen ausgewertet, um die Gewalttäter doch noch zu identifizieren.

Insgesamt waren 20 mutmaßliche Randalierer festgenommen worden. 35 Menschen wurden verletzt, vier davon schwer. Ein Engländer schwebte am Montagnachmittag weiter in Lebensgefahr. Er sei von einer Eisenstange "wahrscheinlich am Kopf" getroffen worden, berichtete die Nachrichtenagentur AFP.

Unterdessen wächst die Kritik am Vorgehen der französischen Behörden. Wolfgang Bosbach (CDU), bis 2015 Vorsitzender des Innenausschusses des Deutschen Bundestages, sagte dem TV-Sender Sport 1: "Wenn es stimmt, dass bis zur Stunde kein einziger Hooligan verhaftet worden ist, dann kann ich das angesichts der Bilder und dramatischer Vorkommnisse nicht verstehen." Bosbach zeigte sich "überrascht, dass es überhaupt zu solchen Ausschreitungen hat kommen können": Zumal die "Gewaltbereitschaft der russischen Hooligans bekannt war".

Diese werden vom russische Parlaments-Vizepräsidenten Igor Lebedew sogar verteidigt: "Ich kann nichts Schlimmes an kämpfenden Fans finden. Im Gegenteil, gut gemacht Jungs. Weiter so!", schrieb der Politiker der nationalistischen Liberaldemokraten im Kurznachrichtendienst Twitter. Lebedew ist zudem Vorstandsmitglied des russischen Fußball-Verbandes. Er verstehe Politiker und Funktionäre nicht, die die Fans kritisieren: "Wir sollten sie verteidigen, und dann können wir es klären, wenn sie nach Hause kommen." Als Konsequenz aus den Ausschreitungen hat die Europäische Fußball-Union Uefa ihr Sicherheitskonzept geändert und mehr Beamte und Ordner aufgeboten. An "sensiblen Orten" hat die Regierung zudem ein Alkoholverbot erlassen. Experten bezweifeln allerdings, dass sich das Phänomen so eindämmen lässt. "Ich glaube, dass sich die Probleme bei dieser EM kurzfristig nicht mehr lösen lassen", sagte Helmut Spahn, der frühere Sicherheitschef des Deutschen Fußball-Bundes, der Bild-Zeitung. Es sei "ein wenig erschreckend, dass die Franzosen die Standards der letzten 15 Jahre im Umgang mit Problem-Fans nicht wahrgenommen oder ignoriert haben", so der Sicherheitschef der WM 2006. Nach den Krawallen droht die Uefa England und Russland mit einem EM-Ausschluss. Harald Lange, Leiter des Instituts für Fankultur an der Universität Würzburg, aber warnt: "Ein Spielverbot wäre für diejenigen, die nur an Krawallen interessiert sind, natürlich das Höchste, was sie erreichen können. Dann fühlen sie sich bestätigt, wir haben Einfluss, wie können die Geschicke lenken und es kaputt machen." Russland bestreitet sein nächstes EM-Spiel am Mittwoch um 15 Uhr in Lille gegen die Slowakei. Die Engländer treten am Donnerstag um 15 Uhr in Lens das nächste Mal an - gegen Wales. Trainer Roy Hodgson richtete in einer Video-Botschaft einen eindringlichen Appell an die Anhänger: "Haltet euch aus Ärger heraus."

Auch der nächste Auftritt der deutschen Auswahl am Donnerstag um 21 Uhr in Saint-Denis gegen Polen gilt als heikel. "Wir gehen fest davon aus, dass diese Begegnung gewaltbereite Störer anziehen wird", sagte Jan Schabacker, Pressesprecher der szenekundigen Beamten aus Deutschland: "Spiele gegen Polen sind traditionell brisant."

Wieso die Fan-Gewalt sich in Frankreich nun so breit Bahn bricht? Eine Theorie besagt, dass die gewaltbereiten Fußball-Fans die letzte Gelegenheit nutzen wollen. Bei den WM-Turnieren 2018 in Russland und 2022 in Katar wird mit einem rigiden Eingreifen der jeweiligen Staatsmacht gerechnet, die EM 2018 findet auf 13 Ländern verteilt statt. Fan-Forscher Lange aber widerspricht. Er prophezeit, Fußball-Hooligans werde es noch lange geben: "Die werden auch bei der gesplitteten EM in solchen Phänomen auftauchen. Man spricht sich dann ab und reist in kleiner Gruppe gemeinsam an und übt dann größere und kleinere Gewaltexzesse aus."

© SZ vom 14.06.2016 / SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: