Erstligist Frankfurt:Ein schwerer Fall

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Am Dienstag schon wird er operiert: Marco Russ von Eintracht Frankfurt verabschiedete sich nach dem ersten Relegationsspiel um die Erstliga-Zugehörigkeit gegen den 1. FC Nürnberg mit seinen Kindern von den Fans. (Foto: Kai Pfaffenbach/Reuters)

Die Tumor-Erkrankung von Marco Russ ist das Thema nach dem 1:1 im ersten Relegations-Duell zwischen der Eintracht und dem Zweitligisten Nürnberg.

Von Markus Schäflein, Frankfurt

Die Fans fanden die richtigen Worte, genau genommen fanden sie: nur ein einziges. Als der Stadionsprecher die Vornamen brüllte und aus der Kurve die Nachnamen erwartete, hießen alle Spieler von Eintracht Frankfurt für einen Abend Russ.

Der Torwart.

Der Stürmer.

"Und unser Trainer heißt Niko" - "Russ!"

Es war eine bewegende Idee der Frankfurter Anhänger für ihren Innenverteidiger Marco Russ, bei dem kurz vor dem ersten Bundesliga-Relegationsspiel gegen Nürnberg (1:1) auffällige Blutwerte bei Dopingtests festgestellt worden waren, woraufhin ein vom Verein hinzugezogener Arzt eine Tumorerkrankung diagnostizierte.

Alle anderen taten sich angesichts dieses Bulletins schwer mit den Worten, auch die, die sonst mühelos mit ihnen umgehen. Bei Russ' Eigentor zur Nürnberger Führung sagte der erfahrene Radioreporter Günther Koch, dass er sich "fast nicht freuen" könne, während sein Co-Kommentator sich fragte: "Wie viel Pech kann man haben?" Der Berichterstatter eines großen Sportmagazins sah sich nach Russ' Missgeschick kurz vor der Pause veranlasst mitzuteilen, dass ein Eigentor "natürlich weniger schlimm" sei als ein Tumor. Verbal am auffälligsten wurden allerdings mit weitem Abstand die Nürnberger.

Club-Torwart Schäfer und Club-Trainer Weiler irritieren kurz mit kruden Aussagen

"Ich finde, der Fußball darf nicht hinhalten für irgendwelche Inszenierungen", sagte Club-Trainer René Weiler nach dem Schlusspfiff. "Es tut mir leid, wenn er krank ist, das wünsche ich niemandem. Da möchte ich, dass er möglichst schnell wieder gesund wird. Aber dass man das am Spieltag kommuniziert, finde ich nicht ideal." Und Torwart Raphael Schäfer meinte gar: "Ich glaube, wenn einer wirklich schwer krank ist, dann kann er heute kein Fußball spielen. Von dem her war das schon eine sehr komische Meldung."

Die Aufregung, die nach den Aussagen losbrach, war groß. Die Nürnberger beeilten sich mit Entschuldigungen. Noch in der Nacht veröffentlichten sie Stellungnahmen, in denen Schäfer ("Ich habe mich voreilig geäußert, ohne Bescheid zu wissen") und Weiler zurückruderten. Weiler hatte schon in der Pressekonferenz erklärt, ihm seien "die Abläufe nicht klar" gewesen.

Diese sahen so aus: Es lagen vier aktuelle Proben vor. Eine vom Spiel in Darmstadt. Eine von Christi Himmelfahrt. Eine vom Spiel in Bremen. Und das Ergebnis einer Untersuchung vom Mittwoch. Laut Eintracht-Vorstandschef Heribert Bruchhagen wiesen diese eine "lineare Steigerung" des HCG-Hormons auf - ein Indiz für eine Tumorerkrankung also.

Dass das Ergebnis der Nationalen Anti-Doping-Agentur (Nada) aus Darmstadt erst am Mittwochnachmittag, also recht kurz vor dem Start der Relegation, eingetroffen war, verärgerte Eintracht-Trainer Niko Kovac: "Drei Wochen mussten vergehen, das ist ein bisschen - salopp gesagt - schlecht." Offenkundig hatte die Nada nichts Auffälliges in früheren Kontrollen gefunden, daher das Ergebnis von Darmstadt noch zurückgehalten, um es in weiteren Tests abzusichern. Der Klub habe dann, sagte Kovac, selbstredend die Erkrankung unmittelbar nach der Diagnose kommunizieren müssen: "Wenn wir angeklagt werden, dass wir einen Dopingfall haben, müssen wir ja alles unternehmen." Und eine Diagnose hatten die Frankfurter schnell parat. "Wir haben Dr. Gabriel informiert, unseren Internisten, der sofort einen Facharzt für Urologie hinzugezogen hat", berichtete Bruchhagen. "Sowohl eine Blut- als auch eine Tastuntersuchung und alles, was notwendig war, hat stattgefunden."

Parallel fanden, und darüber echauffierten sich die Frankfurter am meisten, intensive Untersuchungen der Staatsanwaltschaft statt - die Privatwohnung, das Hotelzimmer und der Kabinenspind von Russ wurden durchsucht. Eben so, wie es das Anfang 2016 in Kraft getretene Anti-Doping-Gesetz vorsieht. "Was gestern abgelaufen ist, ist eine Frechheit, ich bin wirklich geschockt gewesen", klagte Trainer Niko Kovac trotzdem. "Zu sagen, dass der Befund des Arztes zu dem Zeitpunkt nicht da war - meine Damen und Herren, das ist eine Lüge."

Die Staatsanwaltschaft hatte mitgeteilt, der Befund habe nicht schriftlich vorgelegen - aber auch, dass das Vorliegen eines Attests ohnehin nicht automatisch das Ende der unabhängigen staatlichen Ermittlungen bedeute.

Für den Frankfurter Trainer stand dennoch fest, dass er den Innenverteidiger einsetzen würde. "Ich war gleich im ersten Augenblick felsenfest überzeugt davon, dass er spielen kann", sagte Kovac, "und das hat er mir auch gesagt."

Im Rückspiel, das am Montag um 20.30 Uhr in Nürnberg angepfiffen wird, wird Russ allerdings nach seiner zehnten gelben Karte der Saison fehlen. Dann werden es die Nürnberger gegen die spielerisch enorm überlegene Eintracht wieder mit einem Defensivriegel versuchen wie am Donnerstag - sie kamen lediglich auf 25 Prozent Ballbesitz und gewannen, was noch überraschender war, bloß 42 Prozent der Zweikämpfe. Zu einem Remis reichte es dennoch.

"Ich denke, dass sie es zu Hause nicht anders machen werden", sagte Timothy Chandler, der ehemalige Nürnberger bei der Eintracht, und klang nicht begeistert dabei. Nürnbergs Torwart Raphael Schäfer bestätigte: "Frankfurt wird auch bei uns das Spiel machen müssen. Und wir werden dann wieder alles reinwerfen." Und dafür müssen sich die Nürnberger nicht entschuldigen.

© SZ vom 21.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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