Ersatztorwart Kahn:Auf neuer Mission

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Oliver Kahn hat als Ersatztorwart eine Vorbildrolle gefunden als seelische Stütze einer jungen Mannschaft.

Ludger Schulze

Es war der Vormittag des 7. April, als Oliver Kahn in einem Hinterzimmer des Münchner Hotels Dorint zu einem anderen Menschen wurde. Es hat nur ein paar Minuten in Anspruch genommen, die das Beschlussgremium der deutschen Fußball-Nationalmannschaft benötigte, um ihm seine Degradierung zur Nummer 2 mitzuteilen; es hat den Torwart aber Tage gekostet, um zu begreifen, dass sein Leben doch nicht nach dem Drehbuch eines Hollywood-Films abläuft, wie er bis dahin geglaubt hatte: Irrungen und Wirrungen, Enttäuschungen und Brüche, aber am Ende stets ein zuckersüßes Happyend.

Kahn als neuer Animateur für die deutsche Elf (Foto: Foto: dpa)

"Es war das Prinzip meines Lebens", erzählt er, dieses Hinfallen, Wiederaufstehen, die bittere Niederlage, die letztlich doch in einen gloriosen Sieg mündet. Die 1:2-Niederlage im Endspiel der Champions League 1999 gegen Manchester United drängte ihn an den Rand einer Depression, zwei Jahre später hatte er die Bestie in sich endgültig zu Boden geworfen, als er diesen Pokal nach dem Sieg gegen Valencia eben doch triumphierend präsentierte.

Vulkanischer Ehrgeiz

Vor vier Jahren in Japan und Südkorea spielte Kahn eine traumwandlerische WM. Damals wurde er zum unbezwingbaren Titanen, doch Kahns Hollywood hatte sich einen fatalen Schluss einfallen lassen, den die Hauptfigur selbst nur für eine quälende Episode hielt: Ein Schuss des Brasilianers Rivaldo prallte von seiner Brust vor die Füße von Ronaldo, die deutsche Mannschaft verlor das Finale wegen eines unwirklichen Fehlgriffs von Kahn.

Doch dessen Drehbuch sah einen anderen Schluss vor: die Wiedergutmachung im WM-Endspiel am 9. Juli in Berlin. Mit einem Federstrich hat Bundestrainer Klinsmann an jenem 7. April dieses glückliche Ende verworfen.

Jeder konnte erwarten, dass der vulkanische Ehrgeiz des Oliver Kahn ihn zu Wutausbrüchen, Hasstiraden oder im mildesten Fall zum Rücktritt getrieben hätte. Doch der Gedemütigte durchlebte eine Metamorphose in 72 Stunden. Kein Wort der Schuldzuweisung in seiner Erklärung drei Tage später, nur die Versicherung, er werde eigene Interessen hintanstellen und dem Team auch als Ersatzkeeper zu helfen versuchen.

Viele bezweifelten die Aufrichtigkeit dieses Auftritts und wähnten immer noch einen Dolch irgendwo im Gewand des Torwarts. Nach einem langen Schweige-Intermezzo sprach Oliver Kahn am Montag vor einem Kreis von Journalisten erstmals wieder über seine Befindlichkeit, und, um es vorwegzunehmen, es sprach ein reifer, souveräner Mann, der mit sich im Reinen ist, auch wenn er kein Hehl aus seiner Ratlosigkeit und Verletztheit macht.

Das Urteil gegen ihn sei "einer der einprägsamsten Momente meines Sportlerlebens" gewesen, und die schlüssige Antwort, warum man ihn für schlechter erachtet als den Konkurrenten Jens Lehmann, hat er immer noch nicht gefunden. Ein wenig hilflos verweist er darauf, dass er in den vergangenen zwei Jahren alles gewonnen hat, was ein Fußballer national erreichen kann: doppeltes Double aus Meisterschaft und Pokal.

Er hat sich intensivst auf die WM vorbereitet, im Training geschuftet - die Ausbootung ist für ihn bis heute "schwer nachvollziehbar". Aber er hat sie akzeptiert und wollte "nicht durch die Hintertüre verschwinden. Denn das Leben funktioniert ja nicht so, dass man immer nur erfolgreich ist". Wie er Enttäuschung und Ohnmacht überwunden hat, weiß er selbst nicht genau. "Liebe ist so ein Wort", sagt er in bewusster rhetorischen Überhöhung, "aber es ist die Leidenschaft und Hingabe für meinen Sport."

Im Berliner WM-Trainingslager trainiert Kahn wie immer, zielstrebig und hart, als hätte sich nichts geändert an der Rangfolge. Keine Frage, er bereitet sich auf den Augenblick x vor. Ob er an diesen Moment glaube, doch zurückzukehren ins Tor, um der Story seine ureigene Wendung zu geben, wurde er gefragt. - "Nnnein - normalerweise nicht." Allerdings: Das Champions-League-Finale zwischen Barcelona und Arsenal mit dem Platzverweis für Lehmann habe gezeigt, dass der Fußball oft "in Sekundenschnelle" alles auf den Kopf stellt.

"Ohne dass ich Jens jetzt etwas Böses wünsche", fügt er hinzu, solche Gedanken fielen nur auf einen selbst zurück. Das ist leicht gesagt, denn meist ist das Ego stärker als der Altruismus. Aber es gibt keinen Grund, Kahn nicht zu glauben; den Verdacht, Lehmann habe gegen Costa Rica eine Verletzung bagatellisiert, weist er zurück. Der Rivale habe sich professionell verhalten: "Wir Torleute wissen schon, wann wir weiterspielen können und wann nicht. Das habe ich für mich auch immer in Anspruch genommen."

Wenn man ihm zuhört, drängt sich nicht einmal der Eindruck auf, da mache einer gute Miene zum bösen Spiel, sondern vielmehr, es habe einer eine neue, überraschende Mission gefunden als seelische Stütze einer blutjungen Mannschaft. "Einem Sportler, der eine gewisse Karriere gemacht hat, muss man seine Erfahrungen weitergeben", erklärt er. Der Versuchung, seiner Frustration nachzugeben, indem er sich "ins stille Kämmerlein" zurückzieht oder "mit langem Gesicht herumläuft", hat er nicht nachgegeben. Und die Kissen, in die er als Ersatzmann bei den Weltmeisterschaften 1994 und '98 gebissen habe, scherzt er, habe er diesmal entfernen lassen.

Nachdenklich und freundlich

Kahn ist ein offener Gesprächspartner für anlehnungsbedürftigen Jungkollegen. "Man muss ein Gefühl für die Mannschaft entwickeln. Sich mit den jeweiligen Charakteren auseinandersetzen", erklärt er.

Auf diese Weise hat er sich selbst neu entdeckt - und eine Vorbildrolle, auf die ihn schon der vorige Teamchef Rudi Völler hingewiesen hatte. "Man muss aufpassen, wie man sich verhält, denn die Jungen schauen schon auf dich. Das habe ich eine Zeitlang unterschätzt." Nun lebt er diese Rolle, "und das erleichtert mir die tägliche Trainingsarbeit". Wenn es nicht so pathetisch klänge, könnte man sagen, Oliver Kahn habe sich vom Heldentorwart zum Charakterhelden entwickelt.

Der unnahbare Egomane, der häufig auch Finsterling war, ist nachdenklich, verantwortungsbewusst und freundlich. Ein Heiliger wie Mahatma Gandhi aber ist er deshalb noch lange nicht. Wäre der Fußballer gewesen und Ersatzmann, hätte ihm der Erfolg der anderen zum höchsten Glück gereicht. Oliver Kahn grinst breit, als er gefragt wird, ob es für ihn nicht doch ein Happyend wäre, auch als Ersatztorwart Weltmeister zu werden, und denkt ein paar Sekunden nach: "Ich denke...in dem Fall...auch schon - irgendwie."

© SZ vom 13.6.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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