Entscheidung in der T-Frage:Kahn tritt nicht zurück - vorerst

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Nach der Entscheidung Klinsmanns pro Lehmann zeigte sich Bayern-Keeper Oliver Kahn "maßlos enttäuscht". Er wolle sich in wenigen Wochen zu seiner Situation äußern. Derweil wirbt der Bundestrainer um Verständnis.

Nicht Torwart-Titan Oliver Kahn, sondern London-Legionär Jens Lehmann wird bei der WM das Tor der deutschen Fußball-Nationalmannschaft hüten. "Dies war die schwierigste Entscheidung meiner Amtszeit", teilte DFB-Coach Jürgen Klinsmann am Freitag mit. Er legte sich überraschend früh fest: Ursprünglich wollte er die Nummer 1 erst Anfang Mai nominieren. Zur Begründung verwies der Nationaltrainer auf den immensen Druck, der in den vergangenen Tagen entstanden sei.

In München schlug die Nachricht wie ein Blitz ein. "Ich bin sehr überrascht und maßlos enttäuscht", sagte Kahn, nachdem er von Klinsmann in einem persönlichen Gespräch über seine Niederlage informiert worden war. Ob er die WM auch als Nummer 2 mitmachen wird, ließ er offen: "Ich werde mich nun in den kommenden Wochen voll auf meine Aufgaben beim FC Bayern in der Bundesliga und im DFB-Pokal konzentrieren."

Klinsmann nutzte für seinen Coup einen Zeitpunkt, der für eine Entscheidung zu Gunsten Lehmanns nicht günstiger hätte sein können. Am Dienstag qualifizierte sich Lehmann mit Arsenal London für das Halbfinale der Champions League, seit Wochen hält er auch in der britischen Premier League die Kiste sauber, und das vor einer jungen Abwehr. Nach dem Champions-League-Triumph gegen Juventus Turin sagte er, er wäre "sehr überrascht", wenn er nicht bei der Weltmeisterschaft spielen würde.

Kahn leistete sich dagegen am Samstag in der Bundesliga-Partie gegen Köln einen haarsträubenden Aussetzer. Das Ausscheiden der Münchner aus der Champions League hatte ihn überdies der Chance beraubt, sich weiter auf internationaler Bühne zu präsentieren. Auch im letzten Länderspiel gegen die USA machte er keine glückliche Figur. Dass sein Stern sank, blieb in München offenbar nicht ganz verborgen. Am Donnerstag rutschte Bayern-Coach Felix Magath über die Lippen, er würde an Kahns Stelle auch als zweiter Keeper "die WM mitmachen". Kurz zuvor hatte er ihm für diesen Fall noch den Rücktritt empfohlen.

Klinsmann war am Freitag mit seinem Assistenten Joachim Löw und Torwart-Trainer Andreas Köpke nach München gereist, um Kahn die bittere Nachricht zu überbringen. Laut Köpke gab es letzten Endes nur minimale Unterschiede in der Beurteilung Lehmann und Kahn: "Beide Torhüter haben außergewöhnliche Fähigkeiten. Wir sind jedoch davon überzeugt, dass Jens Lehmann besser zu unserer Spielphilosophie passt."

Klinsmann bittet um Verständnis

Das Trainerteam hob ganz besonders die sportliche Einstellung Kahns hervor, mit der er die Nachricht aufgenommen habe. "Natürlich ist Oliver enttäuscht, aber er hat sich als wahrer Sportsmann präsentiert", sagte Klinsmann laut DFB-Mitteilung. Er versicherte, das Trainerteam habe sich den Schritt nicht leicht gemacht. "Ich appelliere an alle, diese Entscheidung zu respektieren und dem Team und Jens Lehmann das nötige Vertrauen entgegenzubringen", sagte auch Manager Oliver Bierhoff. Magath und der Bayern-Vorstand erklärten, sie hielten "diese Entscheidung für falsch, werden sie dennoch akzeptieren".

Die Chronologie der Suche

August 2004: Vor seinem ersten Länderspiel als Bundestrainer in Österreich setzt Jürgen Klinsmann Oliver Kahn als Kapitän ab und ernennt Michael Ballack zu dessen Nachfolger. Er ruft offiziell die Torhüter-Rotation aus und legt die Rollen fest. "Es gibt eine ganz klare Grundkonstellation: Oliver Kahn ist die Nummer 1, Jens Lehmann die Nummer 2 und Timo Hildebrand im Moment die Nummer 3. Jens ist der Herausforderer, Oliver muss seinen Platz verteidigen."

Oktober 2004: Lehmann fordert den Platz als Nummer 1 ein. "Ich will bei der WM 2006 spielen und auch vorher ein paar Mal." Gegen den Iran steht Lehmann zwischen den Pfosten, "Platzhirsch" Kahn bleibt in München. Klinsmann trennt sich von Bundestorwarttrainer Sepp Maier, der Stimmung gegen Lehmann machte, und holt Andreas Köpke in den Trainerstab.

November 2004: In München gibt es ein erstes Gipfeltreffen im Torwartstreit zwischen Klinsmann und der Führung des FC Bayern.

Dezember 2004: Lehmann verliert zwischenzeitlich seinen Stammplatz beim FC Arsenal. Sogar über einen Vereinswechsel des Keepers wird nachgedacht.

Februar 2005: Klinsmann legt im Dauer-Zwist der Torhüter Oliver Kahn und Jens Lehmann die weitere Rotation fest. Die fünf ausstehenden Spiele bis zum Confederations Cup werden aufgeteilt.

Mai 2005: Das Eröffnungsspiel in der Allianz Arena wird für Lehmann Spießrutenlauf. Der Torhüter wird von den Münchner Zuschauern ausgepfiffen.

Juni 2005: Auch beim Confed-Cup wird weiter munter rotiert. Dabei setzt Klinsmann einen neuen Höhepunkt und stellt gegen Argentinien die Nummer 3, Timo Hildebrand, zwischen die Pfosten.

August 2005: Klinsmann trennt die Streithähne Kahn und Lehmann. Bis zum Jahresende werden die beiden Torhüter nicht mehr gemeinsam im deutschen Aufgebot stehen. "Wenn nichts Außergewöhnliches passiert, Oliver ein langes Leistungstief haben sollte oder eine Verletzung dazwischenkommt, dann hat er die besten Karten zu spielen", sagte Klinsmann. Konter Lehmann: "Ich glaube nicht, dass er das so gesagt hat."

November 2005: Das Wechsel-Spiel geht weiter. Nachdem Kahn im Oktober gegen China das Tor hütete, ist Lehmann jetzt gegen Frankreich dran. Der Londoner rechnet mit einer Fortsetzung des munteren Rotationsprinzips und äußert erstmals Rücktrittsgedanken: "Mir würde es sehr, sehr schwer fallen, mich noch einmal auf die Bank zu setzen."

Februar 2006: Auch in den letzten beiden Testspielen vor der Nominierung des WM-Kaders hält Klinsmann an der Rotation fest. Die Keeper teilen sich die Spiele gegen Italien und die USA.

März 2006: Lehmann steht beim 1:4 in Italien statt des verletzten Kahns zwischen den Pfosten. Der Münchner darf dafür drei Wochen später beim 4:1 gegen die USA ran.

April 2006: Kahn patzt in der Bundesliga und muss wieder verletzt raus, Lehmann hält in der Champions League fehlerfrei. Der Torhüterstreit erreicht seinen Höhepunkt. Bayern München und Beckenbauer fordern endlich eine Entscheidung. Klinsmann berät mit seinem Trainerstab in München. In einem Vier-Augen-Gespräch habe der Bundestrainer Kahn mitgeteilt, dass Lehmann bei der WM im Tor stehe, berichtet "Bild".

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