EM 2008:Noch 100 Tage

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23 ist die magische Zahl, 23 Spieler dürfen mitfahren. Wer in den vier Mannschaftsteilen 100 Tage vor der Europameisterschaft die besten Karten hat.

100 Tage vor dem großen Ereignis ist von fiebriger Vorfreude nun wirklich keine Spur. Der deutsche Fußball versinkt im Gegenteil in Depression und Fassungslosigkeit, von Fiasko, Totalschaden, Debakel ist die Rede. Die italienische Gazzetta Il Tempo dichtet: "Deutschland kaputt."

Wer darf bei der Europameisterschaft den Adler auf der Brust tragen? (Foto: Foto: dpa)

Das 1:4 von Florenz gegen Italien am 1. März 2006 ging als Schreckstunde in die Annalen der deutschen Nationalmannschaft ein. 100 Tage vor der WM im eigenen Land herrschte Panik im Land, Angst vor einer riesigen Blamage vor aller Welt. Der damalige Bundestrainer Jürgen Klinsmann, der zuvor den Laden DFB auseinander genommen hatte, hatte in diesem Moment nicht mehr allzu viele Fürsprecher, und nicht wenige forderten seine Ablösung. Es kam bekanntlich anders, Klinsmann darf im Sommer den Bayern-Laden auseinander nehmen und sein Co-Trainer und Nachfolger Joachim Löw steht nun 100 Tage vor seinem ersten großen Turnier als Chef.

Die Stimmung derzeit ist weit vom damaligen Untergangsgetöse entfernt. Löw sitzt fest im Bundestrainer-Sattel und die meisten Experten wie Fans sind der Meinung, Deutschland werde im Juni in der Schweiz und Österreich ein gutes Turnier spielen. Es gibt allerdings auch Mahner, die angesichts der derzeitigen Personalzustands vor großen Hoffnungen warnen.

Gibt es ein Problem im Tor? Schafft es Christoph Metzelder? Kehrt das WM-Mittelfeld zurück? Wer soll die Tore schießen? (Klicken auf diesen Link und stimmen Sie selbst ab)

Eine Standortbestimmung nach Mannschaftsteilen 100 Tage vor der EM:

Die Torhüter

Jens Lehmann ist als Torwart der Nationalelf gesetzt - zumindest bis jetzt. (Foto: Foto: dpa)

Kann ein Torwart das deutsche Gehäuse hüten, wenn er im Verein nur auf der Bank sitzt? Diese Frage rollt wie eine anschwellende Welle auf den Bundestrainer zu. Die offizielle Sprachregelung bisher lautet: Ja, er kann.

Jens Lehmann, 38, erst vor der WM 2006 unter großen Diskussionen zur Nummer eins geworden, ist bei Arsenal London nach zwei Patzern zu Saisonbeginn nur die Nummer zwei. Trotz allem Selbstbewusstsein Lehmanns deutet sein Trainer Wenger keine Kehrtwende an. Nachdem sein Konkurrent Almunia eine Verletzung auskuriert hatte, kehrte Lehmann am Sonntag auf die Sitzbank neben dem Spielfeld zurück. Nationalmannschafts-Manager Oliver Bierhoff meinte: "Das tut mir natürlich leid für ihn, aber damit muss man leben. Aber das ändert jetzt nichts an unserer Einschätzung seiner Nominierung."

Als Nummer zwei ist derzeit Timo Hildebrand, 28, eingeplant. Der ehemalige Stuttgarter hat sich nach Anfangsproblemen, als er ebenfalls nur auf der Bank saß, beim FC Valencia durchgesetzt. Bislang läuft die Rolle des dritten Torhüters auf Robert Enke, 30, von Hannover 96 hinaus. Doch von hinten drängelt René Adler mit starken Leistungen in Leverkusen. Und weil der Platz als dritter Torwart oft auch ein Perspektivplatz ist, hat Adler mit seinen 23 Jahren zumindest dieses Argument für sich.

Das träfe auch auf den Schalker Manuel Neuer, 21, zu, der allerdings zuletzt zu oft danebengriff. So genannte Linientorhüter, die ungern aus dem Kasten kommen und mit den Füßen wenig Begabung zeigen, wie Frank Rost oder Tim Wiese, stehen bei Bundestrainer Löw eher niedrig im Kurs.

Die Abwehr

Christoph Metzelder kennt die Situation schon. Aus den Zeiten vor der WM 2006, als sich Fußball-Deutschland auf der Suche nach einem zweiten Innenverteidiger neben Per Mertesacker befand. Die schon etwas älteren Wörns und Nowotny sahen viele nicht mehr auf internationalem Niveau, Huth agierte manchmal zu ungestüm - und Metzelder hatte bei seinem Heimatverein Dortmund keinen Stammplatz in der Innenverteidigung. Oft saß er auf der Bank oder musste als rechter Verteidiger ran. Klinsmann war das egal und baute trotzdem auf den damals 25-Jährigen.

Und nun, 100 Tage vor dem Beginn der EM? Wörns ist noch älter geworden, Nowotny hat seine Karriere beendet, Huth ist abgetaucht, Westermann noch nicht auf internationalem Niveau - und Metzelder hat bei seinem Verein Real Madrid wieder keinen Stammplatz in der Innenverteidigung . Dieses Mal schaut er wegen einer Verletzung zu. Doch nun baut nicht nur der Bundestrainer auf seine Rückkehr, sondern ganz Fußball-Deutschland. Mertesacker & Metzelder sind zu den stabilen Faktoren in der Elf gereift, auf sie will niemand verzichten. Und wenn Metzelder bis zur EM nicht fit wird, dann gehen die Debatten los: Huth oder Tasci oder Manuel Friedrich oder der von rechts nach innen rückende Arne Friedrich - die Alternative Metzelder vor den Augen, sieht das alles nicht überzeugend aus.

Da geht es den Außenbahnen schon besser. Auf beiden Seiten verfügt Jogi Löw über gute Alternativen: rechts Philipp Lahm, Clemens Fritz und Arne Friedrich, der sich an der Seite stärker präsentiert als in der Zentrale; links Philipp Lahm, Marcell Jansen und Christian Pander, der aber nach seiner Verletzungspause erst wieder seinen alten Fitnesszustand erreichen muss.

Das Mittelfeld

Für das deutsche Mittelfeld steht derzeit nur eines fest: Wenn nicht ein Wunder mittleren Ausmaßes geschieht, besteht es aus vier Spielern. Ansonsten besteht es derzeit nur aus Fragezeichen. Wird Torsten Frings bis zur WM wieder fit? Kommt Michael Ballack nach seiner Zwangspause wieder richtig in Schwung? Setzt Bastian Schweinsteuger seinen zuletzt gezeigten kleinen Aufwärtstrend fort? Wie hat der schon 34-jährige Bernd Schneider seinen langen Ausfall in der Vorrunde verkraftet? Natürlich werden Ballack, Frings und Schneider spielen, wenn sie auch nur halbwegs fit sind; doch allein die Präsenz dieses Trios reicht dem deutschen Spiel ja auch nicht.

Für den Notfall haben sich unterdessen einige andere Spieler etabliert: Thomas Hitzlsperger spielt eine ordentliche Saison, Jermaine Jones eine gute, Simon Rolfes eine überzeugende. Tim Borowski und Sebastian Kehl, beide WM-Fahrer und beide damals im Halbfinale gegen Italien von Beginn an eingesetzt, hingegen haben momentan eher schlechte Karten. Die Löw'schen Experimente aus dem vergangenen Jahr, als die Mittelfeld-Stützen längere Zeit ausfielen, zeigten: Mit einer Energieleistung schafft das Nationalmannschafts-Mittelfeld auch ohne Ballack und Frings mal ein gutes Spiel, aber auf Dauer wird es gegen stärkere Gegner schwierig.

Wenn es Löw so hält wie sein Vorgänger Klinsmann, dann könnte einer der 23 Plätze im WM-Kader ja auch an einen Überraschungsmann gehen - damals war es David Odonkor, jetzt kommt für diese Rolle Bayerns erst 18-jähriger Toni Kroos in Frage.

Der Angriff

Es gibt keinen Bomber unter Deutschlands Stürmern. Das ist nicht schlimm, denn erstens wäre ein derart martialischer Titel nicht mehr zeitgemäß. Und zweitens ist die Personalsituation im Angriff 100 Tage vor dem Beginn der EM auch so recht ordentlich. Um es mit Berti Vogts' Worten zu sagen: "Die Breite an der Spitze ist dichter geworden."

Die Zeiten, in denen fieberhaft in der Ahnengalerie eines gewissen Paulo Rink gestöbert wurde, um den Brasilianer einbürgern zu können, sind vorbei. Heute könnte sich Jogi Löw theoretisch zehn Minuten vor Bekanntgabe des EM-Kaders die Torschützenliste der Bundesliga schnappen und von oben herab zählen.

Wäre heute schon Saisonende, würde ihm zuerst der Stuttgarter Mario Gomez auffallen. Er ist mit elf Toren bester deutscher Stürmer. Es folgen Miroslav Klose (FC Bayern/9 Tore) und Kevin Kuranyi (Schalke/8). Das Trio darf sich nach derzeitigen Maßstäben seines EM-Tickets relativ sicher sein.

WM-Held Lukas Podolski hat bei den Bayern keinen Stammplatz, überzeugte aber zuletzt im Uefa-Cup. Außerdem ist Bald-Bayern-Coach Jürgen Klinsmann sein Fürsprecher.

Mike Hanke (Hannover), Stefan Kießling (Leverkusen) und Gerald Asamoah (Schalke 04) können sich Hoffnungen machen, das Trio Gomez/Klose/Kuranyi ergänzen zu dürfen.

Zu Überraschungsgästen in Löws Kader könnten die Zweitliga-Stürmer Patrick Helmes (Köln) und Oliver Neuville (Mönchengladbach) werden. Neuville wird zwar im Mai 35 Jahre alt, besitzt aber besondere Qualitäten - laut Berti Vogts: "Er geht den kürzesten Weg zum Tor und sucht die Zweikämpfe eins gegen eins. Er ist ein ganz anderer Typ als die anderen deutschen Stürmer."

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© Texte: Thomas Hummel, Johannes Aumüller, Michael König - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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