Eine Frage des Systems:4-3-3, 4-4-2, 3-5-2, 8-1-1

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Trotz zahlreicher schlechter Prognosen läuft es im EM-Quartier der Deutschen rund. Wäre da nicht die müßige Diskussion um die strategische Ausrichtung für das Auftaktspiel gegen die Niederlande.

Von Philipp Selldorf

Eines der vielen Gerüchte, die sich seit der Ankunft deutscher Fußballer und Journalisten in Südportugal in rasender Geschwindigkeit ausbreiten, besagt, dass es in der nächsten Zeit täglich um zwei Grad wärmer werden soll. Das wäre jedoch nicht wünschenswert, denn es ist schon heiß genug an der Algarveküste, und als die Nationalmannschaft gestern Vormittag ihr erstes Training absolvierte, hat die Sonne so heftig auf den Übungsplatz gebrannt, als ob sie die Sahara bescheinen wollte.

Die Spieler haben sich trotzdem mehr als eine Stunde bemüht, gemäß den Anweisungen Rudi Völlers das Toreschießen zu schulen, was allerdings beinahe den Knockout Michael Ballacks zur Folge gehabt hätte - um Millimeter konnte er einem kubischen Kanonenschlag Jens Nowotnys ausweichen.

Weitere Höhepunkte: Jens Jeremies köpfte als Abwehrmann einen Ball 40 Meter hoch und weit, Fabian Ernst traf in den Winkel. Sieht man davon ab, dass Oliver Kahn einen Kopfball von Ballack durch die Arme gleiten ließ wie einen glitschigen Karpfen, war es ein guter Start in die Reise.

Die Spieler sind auch angemessen angetan von der Unterbringung in ihrem familiären Hotel, das mit seinen 109 Zimmern allein dem DFB-Tross vorbehalten bleibt. "Super, Weltklasse", lobte Angreifer Fredi Bobic, "wie man's vom DFB kennt: alles perfekt organisiert. Topdeutsch." Deutscher als deutsch also, was jedoch hier in Portugal nicht mehr den unbedingten Qualitätsbegriff kennzeichnet.

Schon sind die ersten düsteren Prophezeiungen eingetroffen. Der Weltmann Arsene Wenger, Trainer des FC Arsenal, weissagt der DFB-Elf in einer Expertenkolumne für die Uefa das Ausscheiden in der Vorrunde, und Johan Cruyff, in Holland ein berüchtigter Universalist des Fußballs wie Franz Beckenbauer in Deutschland, meint: "Die Deutschen haben, abgesehen vom Charakter, nicht viel zu bieten." Ginge es jedoch nach Cruyffs strengen Kriterien, hätte es wohl keine Mannschaft verdient, das Viertelfinale zu erreichen, auch nicht die seiner Landsleute, die er regelmäßig mit ätzenden Kommentaren ärgert.

In den vergangenen Tagen erging es Völler nicht besser als dem holländischen Kollegen Dick Advocaat, der mit seiner Mannschaft eine halbe Autostunde entfernt in Albufeira wohnt und dort die Erkenntnisse der meist missratenen Vorbereitungsspiele aufarbeitet. "Trümmer-Truppe", "Rudis Versager" hieß es in einigen Zeitungen nach dem 0:2 gegen Ungarn, und flächendeckend verweigerte die regionale und überregionale, die Fach- und die Boulevardpresse der Elf wegen Mängeln in allen Bestandteilen das Prüfsiegel für die EM.

Gestern trat Völler sehr gelassen der öffentlichen Meinung entgegen: "Bei mir und bei den Spielern hat dieses Spiel nichts eingebüßt", stellte er fest und meinte: kein Vertrauen gekostet. "Ich weiß und bin mir sicher", sagte er, "dass wir bei der EM anders auftreten werden."

Dennoch kann sich auch Völler der Debatte nicht entziehen, die über den Zustand und die Möglichkeiten der deutschen Verteidigung entbrannt ist, zumal in Anbetracht der Premierenbegegnung mit dem holländischen Team, das mit sieben furchterregenden Angreifern bewaffnet ist. Der Teamchef selbst hat die Diskussion eröffnet, als er die Überlegung offenbarte, die Deckung nicht mehr als Quartett sondern als Trio zu formieren und dadurch das Mittelfeld auf den Außenpositionen zu verstärken.

Ein bisschen verwunderlich ist das schon, nachdem Advocaat angekündigt hat, er werde mit seinen Oranjes zum traditionellen holländischen 4-3-3 zurückkehren, was im Prinzip den Gegner zur Bildung einer Viererkette auffordert. Völlers Gedankenspiel könnte allerdings auch bedeuten, dass er seine Verteidigung zur Festung verstärkt, weil er mit einem 0:0 glücklich und zufrieden wäre - die von ihm beschworene taktische Flexibilität würde also bedeuten, dass das erweiterte Mittelfeld vor allem den Auftrag zur verdeckten Gefahrenabwehr erhält.

Portugal, nicht Sibirien

Im Zentrum stünde dann Jens Nowotny wie ein Libero und vorne sollten Konter überraschenden Erfolg bringen. Nowotny würde mitmachen, er würde schlechthin alles mitmachen: Das System sei ihm "relativ egal", erzählte er, "wir müssen bloß eins haben, und das müssen dann alle durchziehen." Spötter empfehlen übrigens eine 8-1-1-Formation.

Völler verniedlicht seine offenbar längst nicht mehr vagen Erwägungen und wollte auch nicht mehr ins Detail gehen. "Ob wir jetzt mit Dreier- oder Viererkette spielen, mit einer oder zwei Spitzen, das ist nicht so wichtig. Ich kann nur wiederholen: Es ist eine Grundvoraussetzung und Selbstverständlichkeit, dass eine Mannschaft innerhalb des Spiels taktisch variieren kann." Weitere Erörterungen versandeten dann in Völlers Klage, dass "alles gläsern geworden ist in unserem Geschäft".

Einfacher fiel ihm die Antwort auf die Frage, ob er sich angesichts der einladenden Umgebung im Feriendomizil sorge, dass bei seinen Spielern Urlaubsstimmung aufkomme. Cool antwortete Völler: "Die EM ist nun mal in Portugal und nicht in Sibirien. Das kann man nicht ändern." Zum Glück - auch wenn's schon jetzt sehr heiß ist.

© Süddeutsche Zeitung vom 11.6.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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