Ein Blick auf die Statistik:Magenkribbeln bei den Geheimniskrämern

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Rechtzeitig vorm ersten EM-Auftritt gegen die Niederlande schöpft die DFB-Auswahl neuen Mut, und Rudi Völler beschwört die Statistik.

Von Ludger Schulze

Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast, soll Winston Churchill, der große britische Premier, gesagt haben. Hält man beispielsweise Rudi Völler vor, dass seine Mannschaft in Duellen mit namhaften Gegnern noch nie reüssiert hat, mit Ausnahme eines 1:0 gegen England im Oktober 2000, erklärt der deutsche Teamchef dieses Zahlenspiel kurzerhand für nicht gültig.

Richtig, weil von ihm höchstpersönlich kreativ zurechtgebogen, ist hingegen die erstaunliche Erkenntnis, dass seine Elf in allen 25 Pflichtspielen nur zweimal verloren hat, macht eine überwältigende Erfolgsquote von 80 Prozent. Wer bietet mehr? Churchill wäre begeistert.

Kleinliche Einwände wollen wir einmal beiseite schieben: dass es gegen die wahre Prominenz gewohnheitsmäßig Pleiten regnet (Argentinien 0:1, Spanien 1:3, England 1:5, Brasilien 0:2, Frankreich 0:1, 0:3, Italien 0:1 und, ja, die Niederlande 1:3); oder dass zum letzten Mal eine DFB-Mannschaft im fußballerischen Paläolithikum bei einem großen Turnier gegen einen europäischen Gegner gewann (1996 im EM-Finale gegen Tschechien 2:1).

Ohnehin sind die Ziffern in diesem Fall reines Blendwerk, auch am heutigen Dienstag (20:45 Uhr, live ZDF) gegen die Niederländer siegen nicht die gewieftesten Statistiker, sondern die geschicktesten Ballistiker. Ach ja, eins noch, von den letzten fünf Begegnungen gegen die Nachbarn aus dem Westen gewannen die Deutschen: eine.

Geschichtsträchtige Abneigung

Abgesehen von nüchternen Daten, Fakten und Resultaten aus der Vergangenheit wohnt dieser Partie bekanntlich eine besondere emotionelle Schärfe inne. Seit dem deutschen WM-Triumph 1974 (2:1), den beispielsweise der damalige Oranje-Kapitän Johan Cruyff ("Ich fühle mich immer noch als Gewinner") ad infinitum als nicht existent erklärt, begegnen beide Teams einander mit ausgesuchter Abneigung.

Schriftsteller und Soziologen haben pittoreske Begründungen für niederländische Rachegelüste im Zweiten Weltkrieg gefunden, im Besonderen in dem Umstand, dass die Wehrmacht dem Volk der Fahrradfahrer die "Fietsen" wegnahmen. "Sie glaubten, sich an den Kindern der deutschen Besatzer rächen zu müssen", schrieb der Autor Auke Kok in einem kürzlich erschienenen Buch über seine Landsleute.

So richtig gelungen ist ihnen das nur 1988, als Oranje das EM-Halbfinale 2:1 gewann und nebenbei Ronald Koeman seiner Befriedigung dergestalt Ausdruck verlieh, dass er vor dem Hamburger Publikum das ihm soeben von Olaf Thon abgetretene Trikot mit dem Adler auf der Brust andeutungsweise zwischen den Gesäßbacken hin- und herrieb. Nach Überwindung der analen Phase kam es 1990 (WM-Achtelfinale) zum oralen Aufeinandertreffen, wobei Frank Rijkaards (ansonsten ein "wirklich höflicher und liebenswerter Mensch"/Hollands ehemaliger Torwart Hans van Breukelen) Spucke-Attentat gegen Rudi Völler die 1:2-Niederlage seiner Kollegen nicht zu verhindern vermochte.

Für die heutige Spielergeneration auf beiden Seiten sind das Geschichten aus einer Zeit, als Kater noch gestiefelt waren und die böse Stiefmutter Aschenputtel zum Erbsenzählen zwang. Insofern wird der aktuelle Versuch, dem Stürmer Ruud van Nistelrooy zu unterstellen, er habe im Zusammenhang mit dem heutigen Spiel an die Kriegsgeschehnisse erinnert, von den Friedrichs und Lahms nicht einmal mehr ignoriert. Verteidiger Arne Friedrich hat beschlossen: "Die Zeit der großen Rivalität ist vorbei."

Begonnen freilich hat 48 Stunden vor dem Anpfiff das große Kribbeln in der Magengegend, welches das Trainerduo Völler/Skibbe durch konsequente Geheimniskrämerei gefördert hat: Training- geheim. Taktik: schleierhaft. Aufstellung: Verschlusssache. Immerhin ließ sich Michael Skibbe den dezenten Hinweis entlocken, "dass auch bei den Holländern nicht alles super, alles toll ist".

Eine ermutigende Erkenntnis, denn zuletzt musste man bisweilen den Eindruck gewinnen, als läge es in der freien Entscheidung der Niederländer, wie viele Tore sie gegen Oliver Kahn zu erzielen gedächten. Eine detailliertere Betrachtung der Mannschaftsteile ergibt den Schluss, dass es auch diesmal nicht anders zugehen wird, als die statistische Vergangenheit ohnehin schon weiß: eng, sehr eng.

Im Tor ist Kahn seinem Antipoden Edwin van der Sar vorzuziehen. In der Abwehr mag Oranje in der Person der Fußball-Autorität Jaap Stam winzige Vorteile haben, die leicht durch das vermutlich durch Frank Baumann quantitativ aufgestockte deutsche Mittelfeld aufgehoben werden. Bernd Schneider, Dietmar Hamann, Michael Ballack und Torsten Frings, das sei eine Combo, die "in ihrer ausgeglichenen Stärke weder von Italien noch von Portugal zu überbieten ist.

Kommt drauf an

Und auch nicht von Holland", lautet Franz Beckenbauers Diktum. Er sei keineswegs pessimistisch, "im Gegenteil", sagte Deutschlands erster Lebensberater in Fußballdingen, denn: "Deutschland hat das beste Mittelfeld des Turniers." Bevor jemand in einen unvermuteten Taumel der Verzückung ausbrechen konnte, hat Beckenbauer aber noch schnell eine Einschränkung nachgeschoben: "Lediglich die Franzosen mit Zidane, Vieira und Pires spielen eine Liga höher - aber ganz allein."

Lediglich in dem von Ruud van Nistelrooy geführten Angriff sind die Holländer erkennbar überlegen. Eine Wette, dass Kevin Kuranyi, der wahrscheinlich als einzige Spitze der DFB-Auswahl auflaufen wird, sich in großem Stil durchsetzt, wäre eine bessere Geldanlage als jede Aktien-Investition.

Womit alles geklärt wäre, bis auf die Frage, wie es ausgeht heute Abend in Porto. Antwort: Kommt drauf an. Der junge Philipp Lahm hat mit der Weisheit seiner 20 Jahre auf diese und alle anderen Unwägbarkeiten des Fußballs die ultimative Erklärung gegeben: "Ich vermute, dass ich es weiß."

© Süddeutsche Zeitung vom 15.6.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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