Dortmund - Bayern:Wendemanöver in hundert Sekunden

Lesezeit: 3 min

Nach dem Schlussspurt zum 2:2 in Dortmund lobt sich der FC Bayern, nur Rummenigge bleibt kritisch.

Von Andreas Burkert

Keiner weiß, was passiert wäre, hätte Ahmed Madouni früher den Rasen betreten. Vermutlich nichts mehr.

Dann hätte vielmehr am Samstag, 17 Uhr 18, jene "sehr ungemütliche Woche" für den FC Bayern begonnen, auf die sich Vorstand Karl-Heinz Rummenigge 87 Spielminuten lang gedanklich eingestellt hatte, wie er später gestand. Aber Madouni stand lange draußen an der Seitenlinie neben seinem Trainer Bert van Marwijk. Und das Spiel lief einfach weiter, noch ein paar Sekündchen.

Madouni, ein junger Verteidiger aus Frankreich, spielt seit drei Jahren für Borussia Dortmund, Glück hat er dem Klub noch nicht gebracht. Er ist schon einmal in der Nachspielzeit mit der Hand zum Ball gehechtet, worauf die Borussia noch ein Elfmetertor kassierte und verlor. Als er ein anderes Mal bei den Amateuren in der Regionalliga üben sollte, flog er vom Platz.

Nach sechs Minuten. Nun war also wieder irgendwie Madouni Schuld, dabei konnte er gar nichts dafür. Schuld waren seine schläfrigen Kollegen. Sie traten den Ball nicht "aus dem Stadion", wie von van Marwijk erwünscht. Kein Ausball, kein Foul - keine Spielunterbrechung. Van Marwijk konnte Madouni nicht einwechseln und damit die Sekunden ereignislos verstreichen lassen.

"Da fühlt man sich einfach schlecht"

Der Coach aus Holland und der Franzose standen also draußen, sie sahen den Bayern zu, die gerade das 1:2 (88.) geschafft hatten. Nun lief ihr Torschütze Lúcio schon wieder vor, er schoss aus 20 Metern - Warmuz parierte, im Nachsetzen scheiterte Makaay. Ein Konter der Borussia folgte, aber bald sahen van Marwijk und Madouni, wie der Ball noch einmal in den Dortmunder Strafraum flog, getreten von Zé Roberto.

Es war seine einzige brauchbare Flanke in diesem Spiel, in der Nachspielzeit. Und hinten am Pfosten stieg Makaay hoch, allein gelassen von Jensen, ein Kopfstoß, das 2:2. Zwei Bayern-Tore binnen hundert Sekunden, die Dortmunder fielen rücklings ins Gras, "fassungslos", wie Kapitän Wörns erklärte, "da fühlt man sich einfach schlecht". Draußen fluchte van Marwijk. Madouni stand noch neben ihm, er wartete auf seine Einwechslung.

Sind diese bewegenden hundert Sekunden "die Wende für den FC Bayern" gewesen, wie Manager Uli Hoeneß anschließend verkündete? Ein glückliches 2:2 (0:1) im Westfalenstadion, das statistisch gesehen den schlechtesten Saisonstart der Münchner seit Jahrzehnten komplettierte - vermag dieses turbulent-groteske Finale einer ansonsten quälenden Partie den Bayern "einen schönen Schub geben", wie Torhüter Oliver Kahn umgehend ankündigte?

Zumindest die Münchner Delegation stieg mit dieser Ansicht in den Mannschaftsbus. Torwart Kahn sagte: "Die Moral war super, das ganze Spiel ist das Beste gewesen, was wir bislang in dieser Saison abgeliefert haben." Torsten Frings, der bei seiner viel bepfiffenen Rückkehr solide auftrat, befand, der "klar besseren Mannschaft" angehört zu haben: "Wenn wir so spielen, kommen wir wieder nach vorne." Das Vorankommen der Bayern vollzog sich allerdings auch in Dortmund unbemerkt. Man benötigte eigentlich eine Lupe, um Fortschritt zu erkennen.

Den Bayern fehlten ihre kreativen Triebfedern Ballack und Deisler, aber Felix Magath erwähnte die Ausfälle nicht. Der Trainer lobte die Mannschaft, die bis zu Ewerthons 1:0 (44.) "das Spiel kontrolliert" habe. "Warum hätten wir in einem Auswärtsspiel vor 83000 Zuschauern mehr machen sollen?", fragte er den angemessen kritischen Premiere-Reporter. Vielleicht, weil er nun den anspruchsvollen FC Bayern trainiert und seit Wochen verstärktes aktives Handeln predigt? Doch Magath war zufrieden. "Die Schlussphase gehört auch zum Spiel, und die war klasse."

Nur einer wollte nicht einstimmen in die Münchner Freude über den geretteten Wiesn-Auftakt: Rummenigge. Er reflektierte relativ aufgebracht den Vortrag von Dortmund, auf Magaths Analyse erwiderte er lächelnd, er habe sich sehr lange geärgert. "Ich erlaube mir zu sagen, dass wir 75 Minuten nicht gut gespielt haben", sagte er. Erst Ewerthons 2:0 (Strafstoß nach einem Foul von Linke/69.) habe die Haltung des Teams verändert: "Erst dann haben wir die Handbremse gelöst, denn wenn du 2:0 hinten liegst, brauchst du nicht weiter quer und zurück zum Torwart zu spielen." Auch von einem Wendemanöver wollte Rummenigge nicht sprechen. "Das werden wir erst in den nächsten Wochen sehen."

Antreiber Lucio

Seltsam gebremst, kontrolliert und bisweilen umständlich spielte Magaths Elf gegen zumeist kontrollierte und manchmal umständliche Gastgeber. Also so, wie es Magath eigentlich gar nicht behagt. Er sucht weiterhin nach einer Mannschaft und selbst wohl ein wenig nach ausbalancierten Entscheidungen.

In Dortmund brachte er erstmals Schweinsteiger und Jeremies von Beginn an, sie zählten zu den besseren Kräften - zu den schwächeren neben Rau und Hashemian erneut der Görlitz vorgezogene Bosnier Salihamidzic. Dessen Selbstvertrauen wuchs nicht nach seinem Fehler vor dem 0:1. Was grundsätzlich für die meisten Bayern-Profis in der Offensive gilt. "Wir müssen uns mehr Torchancen erarbeiten, das fehlt noch", sagte Kahn.

In Dortmund übernahm diesen Job am Ende der ungeduldige Abwehrathlet Lúcio, seit seinen Leverkusener Zeiten mit dem Kampfnamen "das Tier" dekoriert. In der Pause habe ihm Magath eine sporadische Ausflugserlaubnis erteilt, erzählte Landsmann Zé Roberto, während Rummenigge den Brasilianer zum "besten Mann auf dem Platz" ernannte. "Er hat das Team nach dem 2:0 getrieben."

Ahmed Madouni hat das nicht mehr verhindern können, er kam erst nach dem 2:2. Er war noch keine zehn Meter aufs Feld gelaufen, da pfiff Schiedsrichter Merk ab.

© Süddeutsche Zeitung vom 20.9.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: