Nicolas Massu weiß jetzt, wie es ist, am Boden zu sein. Sonntagfrüh um halb drei lag er zum erstenmal am Boden der Tennishalle in Athen, erschöpft und halb wahnsinnig vor Glück.
Da hatte er mit seinem Doppelpartner Fernando Gonzales die Deutschen Kiefer/Schüttler überwältigt, in fünf Sätzen und gut drei Stunden.
Gonzales hatte vorher das Spiel um Bronze gewonnen, er hatte insgesamt sieben Stunden auf dem Platz gestanden. Am Sonntagnachmittag machte sich Massu an sein Einzel gegen Mardy Fish, es ging um Gold, er hatte schlecht geschlafen, er spürte seine Füße nicht mehr, er wollte es kurz machen.
Es dauerte vier Stunden. 6:3, 3:6, 2:6, 6:3, 6:4, nach dem Matchball ließ er sich fallen, glücklich und halb wahnsinnig vor Erschöpfung. Nicolas Massu, Chilene aus Vina del Mar, weiß jetzt, wie es ist, am Boden zu sein. Und gleichzeitig zu schweben.
Wahrscheinlich sind es die Augen, in denen man die Begeisterung eines Menschen am besten lesen kann, oder seine Verzweiflung, oder seine Verblüffung über das Glück des Augenblicks.
Man könnte nur Augen fotografieren und sie nebeneinander ausstellen, so viel wie bei den Olympischen Spielen erzählen sie nie. Die Spiele sind noch immer was Großes, sogar für die Tennisprofis, und für einen wie Nicolas Massu sind sie eindeutig zu groß.
"Zu viel in zwei Tagen"
Er sagt: "Ich kann es nicht glauben. Es ist zu viel in zwei Tagen." Zweimal Gold, eins in der Nacht eins am Abend danach. Eigentlich hat er nicht mal zwei Tage gebraucht, um von einem einfachen Spieler zu einer Art Held zu wachsen.
Seine Augen sind ein bisschen rot, während er spricht. Vielleicht verweint, vielleicht rot vor Anstrengung; schon im Doppel hatte er diesen glasigen Blick, den man wohl bekommt, wenn man merkt, dass man einen Lauf erwischt hat, im übertragenen Sinn, und im wörtlichen auch.
Er ist gelaufen und gerannt, er hatte Schmerzen, im dritten Satz des Einzels konnte er sich nicht mehr rühren, das merkte man zwar nicht, aber er selbst hat es so empfunden.
"Ich könnte glücklich sterben"
Jedenfalls, irgendwas trug ihn: Die Fans in der Halle mit den chilenischen Flaggen. Die Wünsche seiner Eltern, denen er abgeraten hatte, zum Finale zu kommen. "Wenn die Eltern kommen, machst du dir Sorgen: Werden sie einen guten Flug haben? Werde ich gut sein, wenn sie da sind? Und wenn sie extra kommen, stundenlang im Flugzeug sitzen: und ich bin schlecht. Was dann?"
Es war ihm lieber, die Eltern schauten ihm zuhause im Fernseher zu. In der Halle waren auch so genügend Fans, alle Athleten der chilenisches Mannschaft waren da. "Sie zu sehen, hat mir Kraft gegeben", sagt Massu, der ein Kämpfer auf dem Platz ist und danach ein leidenschaftlicher Beschreiber dieses Kampfes. Oliver Kahn hat mal nach einem großen Spiel gesagt: "Wir haben im Adrenalin gebadet."
So etwas Griffiges fällt Massu nicht ein nach seinem großen Spiel, aber er meint bestimmt dasselbe: Er sagt:"Wissen Sie, ich liebe es, mich zu bewegen. Ich stehe nie still. Ich bewege mich viel. Ich mag es, mich zu bewegen, aber ich hatte Probleme, mich zu bewegen. Ich konnte mich nicht bewegen."
Den Weg hat er trotzdem gefunden, zur Freude auch der älteren Chilenen, die sich noch daran erinnern, dass bei den Spielen 1928 der Marathonläufer Miguel Plaza die Silbermedaille gewann, um ein paar lumpige Sekunden geschlagen.
Und zwar deshalb, weil er sich unterwegs verirrt hatte und nach dem Weg fragen musste. Seitdem warteten die Chilenen auf eine Goldmedaille. 19 Mal waren sie bei den Spielen, sechs Silbermedaillen, drei bronzene haben sie in der ganzen Zeit geholt. Das ist nicht sehr viel.
Kann man sich vorstellen, wie sie Nicolas Massu nun feiern werden, wenn er heimkommt? Erst mal fliegt er aber zu den US Open. Er will sehen, ob er auch da noch schweben kann. Andererseits ist alles erledigt. Nicolas Massu, 24 Jahre alt, sagt: "Ich könnte jetzt glücklich sterben."