Doping-Fahrplan:E wie Erythropoietin = Epo

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Liebesgrüße aus Moskau: Wie um die unter Dopingverdacht stehende Marion Jones ein aus dem Ostblock bekanntes Absicherungssystem konstruiert wurde und was Kalenderblätter der Angeklagten offenbaren.

Von Thomas Kistner

Marion Jones springt nun in Athen, Amerikas Leichtathletikheldin, die mit den griechischen Motorrad-Artisten Kenteris und Thanou unter anderem eines gemein hat: Gegen alle drei liegt kein positiver Dopingtest vor. Allerdings fiel Marion Jones nie als notorischer Flüchtling vor den Kontrolleuren auf, im Gegenteil.

Das E im Kalenderblatt von "MJ" steht für Epo. (Foto: Foto:)

Wenn stimmt, was Kalendereinträge und Laboranalysen zeigen, die bei der amerikanischen Dopingfirma Balco sichergestellt wurden, hat sich Miss Jones für die offensive Variante des Ausbüchsens entschieden und praktiziert, was in den USA "vortesten" genannt wird und in den Dopingstaatsplänen des Ostblocks unter dem Begriff "Ausreisekontrolle" belief: Tests in einem diskreten Labor, um den Hormonpegel zu bestimmen und sich im Positivfalle von einem Wettkampf zurück zu ziehen.

Marion Jones bestreitet über ihre Anwälte und in flammenden Reden, solche Vortests gepflegt zu haben, sie bestreiten auch die Authentizität der Unterlagen. Doch Experten und die Fahnder der US-Antidopingbehörde Usada glauben ihr nicht. Weil sie mit Balco gearbeitet hat, und weil sie ja stets mit überführten Kollegen und Hardcore-Dopern liiert war (was selbst IOC-Präsident Jacques Rogge vor Monaten zu der Äußerung bemüßigte, Jones sei "dämlich").

Von Kontrollen wenig zu befürchten

In Sydney war es der kugelstoßende Muskelberg C. J. Hunter, dessen Dopingfall die Spiele 2000 erschüttert hat, nun ist es Wunderflitzer Tim Montgomery. Für den 100-m-Weltrekordler hatte Balco sogar ein eigenes Programm aufgelegt, "project world record". Montgomery, Vater von Jones' Kind, fehlt in Athen wie Kenteris, Marion aber glaubt, dass sich die Schlinge um ihren Hals schon nicht zuziehen werde. Möglicherweise hat sie auch diese Zuversicht gemein mit Kenteris, der sich im Schutz seiner Verbandsfunktionäre und der Spieleveranstalter Athoc unverwundbar wähnte, bis er vor den Kontrolleuren ausriss und in die Obhut einer patriotischen Ärzteschar floh.

Marion Jones, vor deren Einsatz im übrigen 400-m-Weltrekordler Michael Johnson ("Tut das nicht. Warum wollt Ihr dieses Risko eingehen?") die US-Teamleitung eindringlich gewarnt hat, wird in Athen von Kontrollen wenig zu befürchten haben. So, wie vor vier Jahren in Sydney. Damals hatte sie, laut Akten der Staatsanwaltschaft, ihre Urinprobe an Balco gesendet, das sie zur Untersuchung an ein Testlabor in Kalifornien weiterschickte, zu Quest Diagnostics.

Befund: Mit einem Testosteronquotienten von 3,5 war Miss Jones zwar ziemlich gut dabei, gemessen am natürlichen menschlichen Hormonspiegel (liegt bei 0,5 bis 1,5), doch beruhigend weit unter dem eigens für den Spitzensport eingeführten Wert von 6 - eine akademischen Phantasiegrenze. Jones' Anwälte zweifeln die Zuordnung dieser und anderer Urinsendungen von Balco an Quest an - dass die Proben mit "Marion J." gekennzeichnet waren, beweise noch nichts.

Dabei hat die Affäre schon Dutzende anderer US-Topathleten verschlungen, darunter solche, die freiwillig ihren von Balco gesteuerten Dopingkonsum gebeichtet haben. Wie etwa Sprint-Weltmeisterin Kelli White. Nun finden sich aber auch Kalenderblätter von Jones in den staatsanwaltschaftlichen Papieren. Die tragen nicht nur das Kürzel "MJ", die Einträge korrespondieren exakt mit Jones' Wettkämpfen im Jahr 2001: Rom, Lausanne, Paris, Nizza, Oslo, Stockholm, Zürich, Brüssel, zwischendurch kurz zu Hause.

Die Schlinge um Marion Jones' Hals zieht sich langsam zu. (Foto: Foto: AP)

Zwischen all diesen Einträgen finden sich die von Balco-Chef Victor Conte benutzten und behördlich entschlüsselten Dopingkürzel: Etwa E für Erythropoietin (Epo), G für Wachstumshormone, C für Cream, eine Testosteronsalbe, dazu die Dosierungsanleitungen. Sollte jemand zu Zeiten, als Contes Doping mit dem Kunst-Steroid THG, das in keinem Labor der Welt auffiel, Aufzeichnungen getürkt haben nur für den Fall, dass die Sache mal auffliegen könnte - und um dann eine unbeteiligte Marion J. zu ruinieren? Ein US-Bundesgericht entscheidet darüber im Herbst, wenn es um den gesamten Balco-Sumpf geht.

Die Affäre Jones aber wirft schon jetzt trübes Licht auf die langjährige Dopingbekämpfungspraxis des IOC, der IAAF und anderer Weltsportverbände. Gecheckt und für rein befunden wurden die mutmaßlichen Jones-Proben aus Sydney und in einem Quest-Labor, das der Leitung von Victor Uralets untersteht. Uralets ist ein Wissenschaftler, der trotz haarsträubender Vergangenheit im Sport bis in diese Tage auf höchsten Verbandsebenen ein wohlgelittener Gast war. Er konnte sich ständig auf den neuesten Stand der Dopinganalytik bringen.

Schwindende Erinnerungen

Dieser Victor Uralets war in der Sowjetunion Chef des Moskauer Antidopinglabors, das Ausreisekontrollen für seine vollgedröhnten Staatsamateure durchführte wie die DDR. Aus jener Zeit rühren zahlreiche Expertisen Uralets' zur Auffindung von Steroiden im Urin. Nach der Wende tauchte Uralets in den USA unter. Der Medizin-Gigant Quest Diagnostics (Umsatz 2003: 4,7 Milliarden Dollar) stellte ihn an, wiewohl sich der wissenschaftlicher Leiter Barry Sample daran nicht genau erinnern mag.

Sample hat einen Ruf zu verlieren: Er war der Chef des olympischen Dopinglabors in Atlanta 1996. Eine Verschwörung seiner Kalifornien-Filiale mit Balco bestritt Sample bisher: "Es widerspricht unserer Firmenpolitik, in Vortests verstrickt zu sein. Wir sind eine Firma mit hoher Ethik." Tatsächlich ist Quest sogar eines der zwei Analyselabors für die Major League Baseball.

Doch die Verbindung mit Uralets ist so evident wie der Fakt, dass der Russe die Entwicklung eines Pro-Hormons vorantrieb, dessen einziger Zweck das Verschleiern von Testosteron im menschlichen Körper ist. Auch das war im Ostblock entwickelt und praktiziert worden: Durch Hinzufügen von Epitestosteron lassen sich überhöhte Testosteron-Spiegel so ausbalancieren, dass sie die vom IOC verfügte Grenze von 6 nicht überschreiten.

Am 17. August kam Bewegung in die Jones-Affäre. Der deutsche Zellforscher und Dopingexperte Werner Franke lieferte der Anklagebehörde in San Francisco "Fakten und Argumente" für eine Strafanzeige, nach der "Quest Diagnostics und deren angestellte Wissenschaftler Uralets und Sample US-Gesetze als auch medizinisch-ethische Regeln verletzt" hätten. Frankes Vorwürfe: "Führung eines Analyselabors zur Bestimmung verbotener Steroide, um Dopingbefunde bei Athleten zu umgehen, die Einrichtung eines Analysesystems zur Bestimmung des Testosteronspiegels, für die es keine vernünftige Indikation gibt außer die Dopingerkennung, die Verletzung von Steuer- und Arzneigesetzen".

Achse des Bösen

Dass Balco neben Uralets auch einen Informanten direkt im IOC-Labor von Los Angeles hatte, geht aus Contes E-Mails hervor: Er selbst brüstete sich fortwährend, über den neuesten Analysestand informiert zu sein. Und als seine Designerdroge THG entdeckt wurde, erhielt er sofort Kenntnis davon und warnte die prominente Kundschaft. Jene verräterische, mit THG verseuchte Spritze war übrigens von Trevor Graham an die US-Agentur Usada geschickt worden. Der Trainer von Sprint-Olympiasieger Justin Gatlin verkündete das am Sonntag in Athen. Indes hatte sich Graham selbst erst 2002 mit Balco-Chef Conte überworfen. Bis dahin hatte er Montgomery trainiert - und Marion Jones.

In Athen debattieren IOC und IAAF nun hinter den Kulissen über zehn Goldmedaillen von Sydney. Offiziell sind nur vier Fälle bekannt, sie betreffen die amerikanische 4x400-m-Staffel, die mit dem gedopten Jerome Young am Start war. Nun soll eine Staffel hinzukommen sowie zwei einzelne Goldmedaillen. Für IAAF-Vorstandsmitglied Helmut Digel ist die Haltung zu Jones vorerst die offizielle: "Sie hat eine Menge Tests aufgewiesen, alle waren negativ. Also gilt sie als unschuldig."

Für Ankläger Franke, der weiß, wie Negativtests zustande kommen, ist klar: "Bei Jones gehört heute dasselbe System der Absicherung dazu wie im früheren Ostblock." Offenbar sogar mit einem der damaligen geistigen Täter, dem Moskauer Dopingexperten. Zusammen mit dem früheren Anti-Dopingchef der Spiele '96 ergibt das fast eine sportive Achse des Bösen.

© Süddeutsche Zeitung vom 26.8.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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