Doping:"Es gibt nur schlechte Lösungen"

Lesezeit: 4 min

Die alten Leichtathletik-Rekorde sind zum Teil durch Doping zustande gekommen - die Sportler rennen ihnen ohne Chance hinterher. DLV-Ehrenpräsident Helmut Digel empfiehlt eine neue Rekordzählung ab 1. Januar 2000.

Ein Interview von Thomas Hahn

Am heutigen Freitag hat der Verbandsrat des Deutschen Leichtathletik-Verbandes in Darmstadt über ein bedeutendes Sportpolitikum zu befinden. Es geht um den Antrag der Schriftstellerin und früheren DDR-Sprinterin Ines Geipel, ihren Rekord, den sie 1985 mit der 4x100 Meter-Staffel des SC Motor Jena aufgestellt hat (41,37 Sekunden), aus den Rekordlisten zu streichen, weil er ein Ergebnis der systematischen Dopingpraxis im DDR-Sport sei. Die SZ sprach mit Helmut Digel, Tübinger Sportwissenschaftler, DLV-Ehrenpräsident und Vizepräsident des Weltverbandes IAAF, über das Problem verseuchter Rekorde.

Helmut Digel hält die alten Rekorde für demotivierend. (Foto: Foto: dpa)

SZ: Herr Professor Digel, wie, glauben Sie, wird der Verbandsrat entscheiden?

Digel: Bisher war die klare Ansicht der DLV-Juristen, dass man nicht Rekorde aberkennen kann, wenn es zu dem Zeitpunkt, als sie erzielt wurden, keine Regeln gab, die eine Aberkennung zulassen. Das ist die juristische Sicht. Sportpolitisch hat man allerdings über andere Dinge nachzudenken.

SZ: Über welche?

Digel: Zum Beispiel darüber, wie ich das Problem zugunsten meiner Athleten löse, die heute Rekorden hinterherlaufen, die nicht erreichbar sind. Ich glaube, dass man etwas ändern muss, wenn man zum Beispiel einen 400-Meter-Rekord bei den Frauen hat, der in unendliche Ferne gerückt ist. Das hat zunächst einmal gar nichts mit der Frage zu tun, ob Marita Koch bei ihren 47,60 Sekunden gedopt war. Ich stelle nur fest, dass dieser Rekord demotivierend ist. Damit ergibt er für mich keinen Sinn mehr, und als Verband kann ich neue Regeln setzen. Außerdem: Wenn Rekorde frustrierend werden für die Zuschauer, gefährde ich das Interesse an meinen Wettkämpfen.

SZ: Aber es geht doch vor allem um ethische Fragen. Der Ursprung der Diskussion ist schließlich Frau Geipels Antrag, ihren deutschen Rekord zu löschen, weil er durch Doping zustande kam.

Digel: Es geht um ein unbewältigtes Rekordproblem, das die Leichtathletik ganz allgemein belastet. Und es geht um ein ganz spezifisches Problem, von dem ein Mensch betroffen ist, der sich zu Recht an den Verband gewandt hat. Deswegen gibt es gar keinen Zweifel: Wenn Frau Geipel an uns die Bitte richtet, aus dieser Liste als Staffelrekordlerin gestrichen zu werden, sollen wir dieser Bitte entsprechen. Ohne Rücksicht darauf, dass damit auch die Leistungen von drei weiteren Athletinnen gestrichen werden. Vor einem ordentlichen Gericht ist längst der Beweis erbracht, dass diese Professorin, die damals eine Athletin war, unerlaubt, medikamentös und ohne ihr Wissen manipuliert wurde. Da hat in vielerlei Hinsicht eine Menschenrechtsverletzung stattgefunden durch ein Unrechtssystem. Die ist auch heute noch eindeutig als solche zu bezeichnen und zu verachten. Der Verband kann diese Verachtung nur ausdrücken, indem er sich auf die Seite dieser Athletin stellt.

SZ: Und die anderen Athletinnen?

Digel: Wenn sie das nicht tragen wollen, sollen sie den Verband vor einem ordentlichen Gericht verklagen. Am Ende wird möglicherweise eine Schadenersatzklage daraus und der Verband muss bezahlen. Das müssten wir respektieren. Aber wir haben geichzeitig Frau Geipel respektiert. Das ist für mich wichtiger.

SZ: Genau diese Klagen und das finanzielle Risiko fürchtet der Verband.

Digel: Zur Not muss man einen Fonds gründen, um diese Kosten zu tragen. Der Verband muss eine unnachgiebige Haltung zeigen, wenn er gegen den Betrug im Sport angehen möchte. Dass er dabei auch die Unterstützung der übrigen Sportverbände braucht, ist klar. Deswegen ist auch die Solidargemeinschaft im Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) gefragt. Die Rekorde sind nicht nur ein Leichtathletik-Problem. Es geht im Fall Geipel um eine Vergangenheitsfrage des gesamten deutschen Sports. Um die Frage: Wie gehe ich mit diesen Opfern um?

SZ: Nicht nur Rekorde von DDR-Athleten stehen zur Debatte, auch viele von BRD-Athleten. Gedopt wurde überall.

Digel: Wenn wir die Rekorde überprüfen, muss man alle überprüfen. Wenn es Dokumente gibt - und es gab ja zumindest bei einem West-Rekord gerichtsverwertbare Dokumente, die als Indizien zu bewerten sind - dann muss auch dieser Rekord aberkannt werden. Wenn wir uns allerdings darauf verständigen, dass wir Rekorde nur auf Grundlage von positiv geführten Dopingkontrollen aberkennen, was eine andere herrschende Haltung ist, dann kann ich gar keinen Rekord aberkennen. Denn es gibt für keinen der in Frage stehenden Rekorde - aus Ost oder West - positive Dopingbefunde. Deswegen bedarf es einer sportpolitischen Entscheidung. Ich empfehle, einen Antrag an den DOSB zu stellen, in dem man dann aber wirklich einen Beschluss zu diesem speziellen Problem verlangt. Nicht eine Vertagung, wie das üblich ist.

SZ: Was gibt es für Lösungen?

Digel: Angesichts des Dilemmas, in dem man sich befindet, gibt es nur schlechte Lösungen. Man muss jene schlechte Lösung auswählen, die dabei noch die beste ist. Für mich ist eines klar: Als erstes muss ich den 4x100-Meter-Rekord annullieren, indem ich der Bitte von Frau Geipel entspreche. Das ist ganz einfach. Danach stehen eben nur noch drei Namen bei diesem Rekord und statt des vierten Namens ein Kreuzchen mit einer Erläuterung.

SZ: Und die weiteren Rekorde?

Digel: Da gibt es zwei Möglichkeiten. Erstens ich kann sagen: Ich möchte über meine Zukunft neu befinden, deshalb beginne ich mit einer neuen Rekordmarkierung zum Datum des Verbandstages. Das heißt, am heutigen Freitag wäre der Neubeginn. Oder, zweitens, man könnte zurückgreifen auf meinen Vorschlag vor der Jahrhundertwende: Jahrhundert-Rekorde einzuführen. Da würde sich anbieten, dass man mit einer neuen Rekordzählung am 1. Januar 2000 beginnt.

SZ: Müssen die Rekorde nicht bleiben, um an das Unrecht dahinter zu erinnern? Digel: Wir hatten die Rekorde lange genug, und ich habe nicht gemerkt, dass dadurch eine intensive Diskussion stattgefunden hätte. Für mich wäre dieser Zustand unbefriedigend. Diese Rekorde haben nicht die Funktion eines Mahnmals.

SZ: Erst Frau Geipels Antrag hat die Rekord-Diskussion aufkommen lassen.

Digel: In der Tat. Frau Geipel hat etwas bewirkt, das überfällig war: dass man nicht nur über Frau Geipel nachdenkt, sondern auch über die Rekorde. Rekorde können ja sehr kontraproduktiv sein. Sie sind ein Instrument, das Manipulation wahrscheinlicher macht. Die Leichtathletik wäre gut beraten, wenn sie ihre Dramaturgie, die ausschließlich auf Rekorde ausgerichtet ist, zurücknehmen würde.

SZ: Sie fehlen bei der Verbandsratssitzung. Warum?

Digel: Ich habe Termine an der Universität, ich habe mich offiziell entschuldigt. Deswegen habe ich mich auch mit einer schriftlichen Darstellung an die Verbandsratsmitglieder gewandt. Ich glaube, dass es hilfreich ist, dass man seine Meinung äußert. Der Entscheidung wird ein Meinungsbildungsprozess zugrunde liegen. Und dabei wird es wesentlich darauf ankommen, was der DLV-Präsident Clemens Prokop als Ziel verfolgt.

SZ: Und was verfolgt Herr Prokop?

Digel: Weil er selbst Jurist ist, wird er die juristische Zurückhaltung ernst zu nehmen haben. Und er wird die Risiken bedenken müssen. Aber Herr Prokop war eigentlich mit mir immer einer Meinung, dass wir hier ein Zeichen setzen müssen. Ich hoffe und denke, dass er dem Wunsch von Frau Geipel entspricht.

© SZ vom 5.5.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: