Diskuswerfen:Dann halt Urlaub

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Robert Harting feiert seinen zehnten deutschen Meistertitel. Währenddessen scheitert sein Bruder Christoph, der amtierende Olympiasieger, auch in Erfurt an der WM-Norm - und nimmt es erstaunlich gelassen.

Von Joachim Mölter, Erfurt

Das Humorverständnis von Christoph Harting ist, nun ja, eigenwillig, gewöhnungsbedürftig, manche würden sagen: schräg. Das hat der Diskuswerfer vom SCC Berlin bei den deutschen Meisterschaften in Erfurt nun erneut bewiesen, als er nach dem Wettkampf die Reihen der wartenden Journalisten abschritt, den vorderen die Hand reichte, sich artig mit Namen vorstellte, "Harting", und dann dem Ausgang entgegen strebte, ehe ihm einer hinterherrief: "Halt, bitte hierbleiben!"

Erst da drehte Christoph Harting um, sagte "klar doch", grinste breit über den aus seiner Sicht gelungenen Scherz und fügte hinzu: "Ihr hättet das geschluckt, oder?"

Es hätte tatsächlich niemanden überrascht, wenn Christoph Harting sich einfach davongemacht hätte an diesem Samstagabend. So ähnlich hatte er das schon bei seinem Olympiasieg in Rio 2016 gemacht, als er die zum Glückwunsch dargereichte Hand eines Fernseh-Reporters einfach ausschlug, nichts sagen wollte und bei der Siegerehrung derart unruhig herumhampelte, dass er sich seitdem niemandem mehr vorstellen muss, weil dieser Auftritt in Erinnerung geblieben ist. So wenig dieser 27-Jährige in Rio de Janeiro mit dem Erfolg umgehen konnte, so sicher stellte er sich nun in Erfurt nach dem Misserfolg.

Während sein Bruder Robert, 32, der Olympiasieger von London 2012, seinen zehnten Meistertitel gewann mit 65,65 Meter, landete der jüngere Harting auf Platz vier mit 62,51 - fast sechs Meter weniger als in Rio, vor allem aber zweieinhalb Meter zu wenig für die WM-Norm des internationalen Leichtathletik-Verbandes, die der deutsche so übernommen hat. Die WM in London Anfang August könnten also ohne den aktuellen Olympiasieger über die Bühne gehen. "Im vorigen Jahr hatten wir Olympische Spiele ohne die Weltmeisterin im Speerwerfen", erinnerte Christoph Harting an Katharina Molitor, die sich damals auch nicht für den Saisonhöhepunkt qualifizierte. Aber er weiß: "Weltmeisterschaften ohne den Olympiasieger ist eine andere Sache." Da ist die Fallhöhe größer.

Christoph Harting war offensichtlich auf eine harte Landung vorbereitet, denn er plauderte erstaunlich launig über sein Malheur. Das hatte sich im Saisonverlauf abgezeichnet, er ist bislang nicht über 64,13 hinausgekommen, der Wettkampf in Erfurt spiegelte seine Verunsicherung im Ring wider: Erst zwei ungültige Versuche zu Beginn, "da hab' ich schon ein bisschen Panik geschoben", dann folgten 60,06 Meter, mit denen er sich ins Finale der besten Acht rettete; dort zwei weitere Ungültige und dann 62,51 zum Schluss. "Ich habe alles in den letzten Versuch gelegt", beschrieb er die Situation, "ich hab' hoch gepokert und leider verloren, das passiert."

Weil sich international noch zu wenige qualifiziert haben, bleibt noch eine kleine Hintertür

Harting hatte auch ein Phänomen aus der Sportpsychologie als Erklärung parat. "Bei jedem, der bei Olympia was gerissen hat, ist im Jahr danach die Luft raus. Und alle, die nichts geschafft haben, kommen stärker zurück", erinnerte er und verwies auf den Weltjahresbesten Daniel Stahl aus Schweden: "Der hat in Rio nicht das abgeliefert, was er gekonnt hätte, und kommt jetzt aus der Versenkung mit 71,29." Ein Gegenbeispiel für diese These gibt es freilich auch: Speerwurf-Olympiasieger Thomas Röhler (Jena) hat in diesem Sommer einen deutschen Rekord nachgelegt (93,30).

Luft raus nach den Spielen? Christoph Harting (unten) verweist darauf, dass viele Olympiasieger in der Folgesaison ein Tief durchmachen. (Foto: Gladys Chai von der Laage/imago)

Und nun? "Gibt's einen schönen langen Urlaub, das hatte ich auch lange nicht mehr", sagte Christoph Harting; danach will er sich auf die EM 2018 in Berlin und langfristig auf Olympia 2020 vorbereiten. Wobei es ja noch eine Hintertür zur WM 2017 gibt: Der Weltverband IAAF verlangt zwar 65 Meter für die Teilnahme, strebt aber auch ein Feld mit 32 Startern an und wird das notfalls mit normlosen Nachrückern auffüllen. "Ich kenne die Regularien der IAAF nicht", sagt Harting, versichert aber: "Ich will keine Extrawurst. Wenn's nicht gereicht hat, hat's halt nicht gereicht." Selbst wenn die IAAF das Feld bis Mitte Juli noch auffüllt, wird es eng: Der DLV darf maximal drei Diskuswerfer nach London schicken, und Christoph Harting ist bloß der viertbeste im Moment.

Für Robert Harting gehört der Fall seines Bruders zum "Prozess des Lernens". Die beiden Olympiasieger pflegen bekanntlich ein kühles, distanziertes Verhältnis. "Jeder hat seinen eigenen Wirkungsraum. Man hat sich entschlossen, getrennt zu arbeiten und gut ist's", sagt der Ältere lapidar. Der steckt selbst in einem Lernprozess, wegen einer Knie-Operation im vorigen Herbst ist er technisch limitiert; damit hadert er. Bis zur WM hat er noch vier Wochen Zeit, um Technik und Saisonbestleistung (66,30) zu verbessern. "Da kann ich vielleicht noch ein, zwei Meter rausholen, aber mehr wird's nicht", sagt er.

Christoph Harting glaubt: "Dem Mann sind immer 67 oder 68 Meter zuzutrauen, egal, in welchem Zustand er sich befindet." Den neuerlichen Titelgewinn seines Bruders würdigte er im Übrigen als "eine geile Comeback-Story". Nach Robert Hartings Kreuzbandriss 2014, nach dem wegen eines Hexenschusses vermasselten Olympiastart 2016 war das "Comeback Nummer 32, oder?" fragte Christoph Harting grinsend. Es war nicht ganz klar, ob das Lob des ungeliebten Bruders ernst gemeint war oder doch ironisch. Der Humor von Christoph Harting bleibt eigenwillig.

© SZ vom 10.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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