Deutschlandfußball:Wir Weltmeister

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Wird die WM das Land retten? Bestimmt nicht. Aber das Land wird ein Fest feiern. Hoffentlich.

Ludger Schulze

Für uns Studenten waren die Tickets der Schwarzhändler rund um das Olympiastadion leider zu teuer, ein ganzer Monat Bafög oder noch mehr, und deshalb saßen wir am Nachmittag des 7. Juli 1974 mit den Freunden in einer Untergiesinger Kneipe vor einem großen Farbfernsehapparat. Ungefähr beim zweiten Bier flankte Rainer Bonhof in die Mitte, Gerd Müller stoppte den Ball und schoss ihn am Standbein des holländischen Torwarts vorbei ins Netz.

Es war das 2:1, der alles entscheidende Treffer, doch Gerd Müller bejubelte dieses größte seiner Tore nicht anders als all die kleinen gegen Rotweiß Oberhausen oder Tennis Borussia Berlin. Er hüpfte ein bisschen in die Höhe und schwang den rechten Arm durch die Luft, als wolle er mit einem Lasso ein Kälbchen einfangen.

In der Kneipe, die etwa drei Weitschüsse entfernt vom Geburtshaus Franz Beckenbauers in der Zugspitzstraße lag, wurde auch gefeiert. Alle sprangen auf von den Wirtshausstühlen, brüllten "Tooor" und vielleicht hat irgendeiner dem Nebenmann auf die Schulter gehauen. Aber nicht ein Bierglas ging zu Boden, sogar die Tischdecke blieb, wo sie hingehörte.

Eine Stunde später waren wir Weltmeister. Die im Stadion saßen erschöpft auf einem Podest und winkten den Fotografen zu. Keiner wäre, wie heute üblich, auf den Gedanken gekommen, sich eines Teils seiner Berufskleidung zu entledigen. Ein paar Meter daneben nahm Kapitän Beckenbauer den WM-Pokal mit einem heiter-gelassenen Lächeln in Empfang, als habe er ohnehin nichts anderes erwartet.

Die Politprominenz war kaum vertreten

So ging es uns in der Kneipe übrigens auch. Zwei Jahre vorher hatte Beckenbauers Nationalelf alle Gegner an die Wand gespielt und war souverän Europameister geworden, und ein paar Tage vor der WM hatte der FC Bayern endlich das Ajax-Monopol gebrochen und den Amsterdamern den Europapokal der Landesmeister abgejagt. Wer also hätte dieser Mannschaft den Weltmeistertitel streitig machen können?

Dann schwenkten die Fernsehkameras zur Ehrentribüne, wo die spärlich vertretene Politprominenz - Bundespräsident Walter Scheel und Kanzler Helmut Schmidt hatten sich ein paar Stunden Zeit vom Regieren genommen - gemessen applaudierte. Auch wir freuten uns noch ein bisschen, und der Höhepunkt an Ausgelassenheit war erreicht, als die Wirtin zu einer Polonaise rund um den Block aufforderte.

Einige machten mit, aber nur die paar Meter bis zur nächsten Straßenecke und wegen der Aussicht auf Freibier. Dann gingen wir nach Hause, um am nächsten Morgen einigermaßen ausgeschlafen zur Arbeit oder zur Uni zu gehen. So war das im verregneten Sommer 1974, als Deutschland zum zweiten Mal Weltmeister wurde.

Deutschland hatte ganz andere Sorgen, als verrückt zu spielen wegen zwei Dutzend Fußballern, und wenn sie noch so toll waren. In jenem Jahr hatte die Menschen eine erste Ahnung von der bevorstehenden Vertreibung aus dem Paradies des Wirtschaftswunders beschlichen.

Ölschock und RAF

Willy Brandt, der Visionär eines Lebens in Freiheit und Frieden, war gestürzt worden durch den Stasi-Spion Günter Guillaume und ersetzt durch den nüchternen Helmut Schmidt, den Kanzler des Machbaren. Nach Jahren der Vollbeschäftigung war die Zahl der Arbeitslosen explosionsartig auf mehr als eine halbe Million angeschwollen.

In den Großstädten versetzte ein Grüppchen Wahnwitziger namens Rote-Armee-Fraktion die Menschen in Angst und Schrecken, und weil die arabischen Staaten den Westen wegen seiner israelfreundlichen Politik mit einer Drosselung der Erdölförderung ("Ölschock") abstraften, hatten die Deutschen zeitweise auf ihr liebstes Spielzeug verzichten müssen - zumindest an vier autofreien Sonntagen im November ´73.

Zu allem Übel verkündete der Club of Rome das Ende unaufhörlichen Wachstums, der stärksten Triebfeder des Kapitalismus. Die Politik beherrschte den Alltag der Deutschen, nicht der Fußball. Dem brachten sie freundliches Interesse entgegen, aber er durchdrang das öffentliche Leben nicht bis in den letzten Winkel. Wer nicht wollte, der guckte einfach nicht hin.

Der alte Glanz des mürrischen Landes

In seiner Weihnachtsbotschaft vor dem WM-Jahr 2006 sagte der oberste Repräsentant des Staates, Bundespräsident Horst Köhler: "Jahrzehntelang war Deutschland in Europa Spitze. Da wollen wir wieder hin." Wie das mürrische, von Selbstzweifeln geplagte Land den alten Glanz wieder auflegen könnte, hat Köhler gleich mitverraten: "Wir wollen Weltmeister werden."

Auch die eher fachfremde Kanzlerin Angela Merkel nährte Anfang Januar in einem Interview tapfer die Hoffnung auf die Wende durch Tore: "Wir können Weltmeister werden." Anders als 1974, als deutsche Politiker niemals auf die Idee gekommen wären, Wohl und Wehe der Nation mit den taktisch-technischen Fertigkeiten seiner Fußball-Elite zu verknüpfen, bedienen sie sich heute ungehemmt der Symbolkraft des Fußballs.

Helmut Kohl, in dessen Regierungszeit die Bewerbung für die WM 2006 beschlossen wurde, hat gerne Nationalspieler an seine Brust gezogen, vornehmlich im Wahlkampf.

Sein Nachfolger Gerhard Schröder riskierte sogar eine deftige Blamage, als er wort- und regungslos den Daumen emporreckend den Hintergrund für den vortragenden Bewerbungschef Franz Beckenbauer abgab - eine halbe Stunde lang.

Die Sache ging gut

Wäre der Auftritt im Juni 2000 vor dem Wahlgremium der Fifa erfolglos geblieben, hätte Schröder selbst die Vorlage geliefert, die ihn als grinsenden Manager des Misserfolgs bloßgestellt hätte. Die Sache ging gut damals in Zürich, Deutschland bekam bekanntlich die WM, und vielleicht wird dies vielen Leuten als einer der besten Tage der Ära Schröder in Erinnerung bleiben.

Fußball-Kanzler Gerhard Schröder darf die Früchte seines Einsatzes nicht mehr ernten. Die fallen, wenn die Klinsmänner denn wider Erwarten am 9. Juli im Berliner Olympiastadion den Titel gewännen, seinen Nachfolgern in den Schoß.

Und die erwarten sich viel, den seit Jahren angemahnten Ruck und damit verbunden wirtschaftlichen Aufschwung; Hand in Hand mit einer spürbaren Verringerung der Arbeitslosigkeit sowie die Bereitschaft der Bevölkerung, einschneidende Maßnahmen zur Gesundung des Staatshaushalts mit neuem Gleichmut zu ertragen - also lauter Sachen, die offenkundig mit den herkömmlichen Mitteln der Reformpolitik nicht zu bewerkstelligen sind. Wenigstens aber soll die Weltmeisterschaft als Stimmungsaufheller dienen wie ein Anti-Depressivum für den Gemütskranken.

Die Frage ist, ob sie all das selber glauben? Wohl eher nicht. Wirtschaftsanalysten schätzen das unmittelbar durch die WM ausgelöste Wachstum bestenfalls auf 0,3 Prozent - möglicherweise entstehen aber auch Verluste; bestimmt entstehen ein paar neue Jobs - vor allem Kurzzeit-Beschäftigung für Hiwis, Aushilfen oder gar Volunteers, wie heutzutage Arbeitskräfte heißen, die nichts kosten.

Wirtschaftsaufschwung Fehlanzeige

Bei den meisten Unternehmen ist die Hoffnung auf zusätzliche Einnahmen geschwunden, bis in die äußersten Winkel der Republik macht sich Desillusionierung breit. "Für unseren Landkreis ist der Zug leider schon abgefahren", zitieren die Rupertigau und Watzmann Nachrichten einen traurigen Wirtschaftssprecher aus dem Berchtesgadener Land.

Den schwiemeligen Erwartungsbombast hat Franz Beckenbauer auf diese Formel gebracht: "Die WM bietet die einmalige Chance, das Land zu verbessern." Schön gesagt - schöner wäre es, wenn das Land auch teilnehmen könnte. Aber leider müssen die Leute bei ihrer eigenen Party draußen bleiben, weil das Turnier Blatters Fifa gehört, und die hofiert lieber nadelgestreifte Champagnerschlürfer und hochhackige Unternehmersgattinnen.

Deren Tickets übersteigen das Monatsbudget eines Hartz-IV-Empfängers. Für Normalsterbliche gab es den Pro-Forma-Verkauf via Internet, die Aussicht, eine Karte zu ergattern, war kaum höher als auf einen Lottogewinn.

Es ist eine Mär, dass die Kraft des Fußballs eine Gesellschaft nachhaltig positiv verändern könnte. Das ist nicht mal in Brasilien, dem Land des Abonnement-Weltmeisters, gelungen. Aber 1954, da hat doch das 3:2-Wunder von Bern ein durch zwölf Hitler-Jahre und einen alles vernichtenden Krieg verstörtes Volk schlagartig zu einer intakten Gemeinschaft von Welt-Meistern gemacht, nicht wahr? Falsch, auch das.

Erst mit der Bedenkzeit von ein, zwei Jahrzehnten haben Soziologen, Historiker und Feuilletonisten den 4. Juli zum wahren Gründungsdatum der deutschen Bundesrepublik umgedeutet. Zeitgenossen haben von der Bedeutung des Tages wenig mitbekommen, schon gar nicht die Staatslenker. Bundeskanzler Konrad Adenauer schickte ein lapidares Glückwunschtelegramm an die Fußballer, der damalige, für den Sport zuständige Innenminister Gerhard Schröder zog den Besuch des Deutschen Galoppderbys in Hamburg einer Anwesenheit im Wankdorfstadion vor.

Mit einigem guten Willen kann man dem dritten WM-Gewinn eine bedeutsame gesellschaftliche Rolle zuerkennen. Das Jahr 1990 bot die Wiedervereinigung beider deutscher Staaten als das größte, schönste Ereignis unserer jüngeren Geschichte.

Mauerfall und WM-Titel

Der Ergriffenheit von Willy Brandt, Helmut Kohl und Berlins Regierendem Bürgermeister Walter Momper, im November ´89 auf dem Balkon des Schöneberger Rathauses gleich nach dem Mauerfall, folgte als Krönung eines gloriosen deutschen Jahres die rauschhafte Glückseligkeit der Fußballsieger um Lothar Matthäus, Rudi Völler und Jürgen Klinsmann in Rom.

Wenn man denn schon die Erfolgsdaten des deutschen Fußballs zum Vergleich verwendet, darf man eines nicht vergessen: Ermöglicht haben sie großartige Interpreten des Spiels, die unendlich viel mehr zu bieten hatten als bloße deutsche Tugenden: Fritz Walter 1954, der brillante Kopf einer absurd unterschätzten Elf von Klasseleuten; Kapitän Franz Beckenbauer 1974 an der Spitze einer Ansammlung von außergewöhnlichen Könnern; 1990 vereinigten sich alle Vorzüge deutschen Fußballwesens in der Mannschaft um Lothar Matthäus. Und heute? Haben wir Oliver Kahn auf der Bank, Michael Ballack im Mittelfeld und ein Publikum, das sich alle Mühe geben wird, den Ball ins Tor hineinzuschreien.

Maue Aussichten also angesichts einer unsicheren Wirtschaftslage, uferlosen Werbebombardements, eines eskalierenden Ticketstreits und drohender Aufmärsche von Rechtsradikalen? Mag sein, aber eins, aber eins, das bleibt besteh"n: Vom 9. Juni an, Anpfiff 18 Uhr, wird der Fußball jeglichen Überdruss, alle Schlechtwetterprognosen und sonstigen Ärgernisse aus seinen Stadiontempeln fegen. Und es wird ein Fest werden. Und am 10. Juli werden wir, übermüdet und ein wenig glücklicher vielleicht, wieder zur Arbeit gehen. Sofern wir eine haben.

© SZ vom 6. Juni 2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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