Deutschland vor dem Spiel gegen Holland:Drohgebärde der Fliegengewichtler

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Teamchef Rudi Völler will gegen die Niederlande die deutsche Vorstopper-Tradition wieder aufleben lassen.

Von Ludger Schulze

Am 24. Juni 1990 hatte es in Mailand eine Temperatur, die sich nachmittags langsam auf den Punkt zu bewegte, an dem aus Asphaltstraßen kochend schwarze Swimmingpools werden. Auf der Tribüne des Giuseppe-Meazza-Stadions diskutierten bis zur Selbstauflösung schwitzende Journalisten, was denn den Beckenbauer geritten habe, seine Elf mit mehr als einem Drittel gelernter Vorstopper zu einer Art Fort Alamo vor der Irokesen-Attacke auszubauen.

Was sie dann erlebten, hat die vorauseilende Kritik schnell verstummen lassen; Deutschland gewann im WM-Achtelfinale 2:1 gegen die Niederländer, und man verachte den Anteil nicht, den das Stopper-Quartett Augenthaler, Berthold, Buchwald und Kohler daran hatte.

Die Lehre aus den ollen Kamellen

Man möge die ollen Kamellen in der Mottenkiste ruhen lassen, aber in diesem Zusammenhang ist es wichtig, dass Rudi Völler nicht nur dabei war, sondern eine aktiv-passive Rolle spielte, indem er sich von Frank Rijkaard bespucken lassen musste und - bis heute ungelöstes Geheimnis des argentinischen Schiedsrichters Loustau -deshalb vom Platz flog.

Trotz der persönlichen Malaise hat Völler aus diesem Match gesicherte Erkenntnisse mitgenommen, wie man den auch diesmal favorisierten Nachbarn so zu Leibe rückt, dass sie den Spaß am Fußball verlieren: mit einer porentief reinen Defensiv-Ordnung inklusive gesundheitsstrotzender Härte. Es ist jetzt heiß in Portugal, nicht weniger als damals in Mailand, und Völler muss wieder viel erklären.

"Ich kann jetzt schon versprechen", sagte er bei seiner abschließenden öffentlichen Verlautbarung vor dem EM-Auftaktspiel der Deutschen gegen den erzernen Rivalen in Porto (Dienstag, 20.45 Uhr, live im ZDF), "dass wir körperlich alles aus uns herausholen."

Skibbe schmückt mit Girlanden

Sein assistierender Kompagnon Michael Skibbe sagt das Gleiche, nur mit mehr Girlanden verziert. Die Überraschung werde nicht in der Taktik liegen, Zweierkette oder Dreierkette, sondern "in unserem Defensivverhalten an sich. Das Zweikampfverhalten wird so couragiert wie möglich sein.

Wichtig ist, dass die individuellen Fähigkeiten der Holländer erst ab dem zweiten Gruppenspiel zum Tragen kommt. Gegen uns wird ihnen der Schneid abgekauft". Er spreche eigentlich sehr gut Deutsch, fragte ein niederländischer Fernsehmann deshalb Michael Ballack, aber das müsse der ihm mal erklären, was das heiße: Schneid abkaufen. Da grinste Ballack sein Ballack-Grinsen, beugte sich ein bisschen zum Mikrofon vor und sagte: "Das werden Sie am Dienstag sehen."

Es herrscht nirgends Dissenz darüber, dass der Widersacher aus Oranje den geschmeidigeren Fußball spielt, adretter, was fürs Auge und diese Dinge. Und wenn sie dann mal so einen Tag erwischen wie bei ihrem 3:1 vor eineinhalb Jahren in Gelsenkirchen, der wie eigens gemacht erscheint für holländischen Fußball, dann kannst du nur Spalier stehen und bravo rufen.

Oder: rustikal den Fluss unterbinden und, wie es in der Diktion von Michael Ballack heißt, "bis an die Grenze des Erlaubten gehen". So wie seinerzeit die Mailänder Triumphatoren, die genau bis dorthin gingen, aber auch keinen Millimeter weiter. An diesem Typus aus der Abteilung Gemäßigtes Hauen und Stechen herrsche heute jedoch Mangel, stellt der Experte Günter Netzer fest: "Es fehlen ein paar Schweinehunde auf dem Rasen", sagt er bedauernd.

Lahm, ein Mann ohne Axt

Leute wie Christian Wörns oder Dietmar Hamann dürfte er damit kaum gemeint haben. Philipp Lahm aber und Arne Friedrich sind gewiss nicht die Verteidiger, die ihre Gegenspieler mit der Axt vom Ball trennen, sondern eher mit chirurgischer Präzision. Deshalb klingt es ein wenig so, als würde ein Fliegengewicht den Klitschko-Brüdern mit der Faust drohen, wenn auch der 20-jährige Lahm die neuen deutschen Lieblingsworte von der "nötigen Aggression" in den Mund nimmt. Aber auch Lahm, der in der Offensive so viel Phantasie entwickelt, kennt seinen rückwärts gewandten Primär-Auftrag: "Hinten muss die Null stehen".

Der Berliner Friedrich, Abwehrspieler auf der rechten Seite, hat in den letzten Trainingseinheiten unter Ausschluss der Öffentlichkeit erkannt, "dass sich die Aggressivität gesteigert hat", das sei irgendwie "eine deutsche Tugend". Was umgehend dazu führt, dass sich Friedrich in gewisser Weise auf diplomatischer Mission im Dienste der schwarz-rot-goldenen Sache sieht: "Man möchte dem Land weiterhelfen", sagt er in aller Bescheidenheit, wofür das Land sich an dieser Stelle herzlich bedankt.

Man merkt, es steht am Dienstag in Porto ein Spiel bevor, dem viele Menschen außerordentliche Bedeutung beimessen. Rudi Völler überkommt mitunter sogar der Eindruck, "dass es in ganz Holland und ganz Deutschland nichts anderes gibt als diese EM". Bei aller Hitze - es beruhigt jedoch, dass der Teamchef, der wie kein anderer um die versteckten und offenen Ressentiments auf beiden Seiten weiß, eines in Erinnerung ruft: "Wir spielen Fußball. Nicht mehr. Nicht weniger."

© SZ vom 14.6.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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