Deutsche Sprinterinnen:Die Zeit der Hopser ist vorbei

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Enttäuschtes Talent: Gina Lückenkemper hat für die kommende Saison einiges aufzuarbeiten. (Foto: Martin Meissner/dpa)

Plötzliche Schmerzen, schwere Beine: Gina Lückenkemper und Tatjana Pinto verpassen das 100-Meter-Finale.

Von Saskia Aleythe, Doha

Dieses Rennen in Doha hatte Gina Lückenkemper schon vor einem Jahr im Kopf. Die Sprinterin war gerade EM-Zweite über 100 Meter geworden in Berlin, wo ein gut gefülltes Olympiastadion beobachten konnte, wie die damals 21-Jährige erst ein paar Freudensprünge vollführte, dann überfordert von den eigenen Gefühlen auf die Tartanbahn sank und schließlich Kuscheleinheiten mit Maskottchen Berlino austauschte. In Halbfinale und Endlauf hatte sie mit 10,98 Sekunden geglänzt und sagte schließlich: "Wenn ich es jetzt an einem Abend zwei Mal unter elf Sekunden schaffe, wer weiß, wie es dann nächstes Jahr läuft?"

Seit Sonntagabend weiß man nun: Nicht ganz so gut.

Doha ist nicht Berlin, statt auf 34 000 Zuschauer, die sie damals angefeuert haben, traf sie im Khalifa-Stadion auf kaum 5000 verhaltene Beobachter. "Es ist leider schade, weil hier kaum Stimmung rüberkommt", sagte Lückenkemper. Doch auch sie selber ist momentan nicht die Berlin-Gina. Mit 11,29 Sekunden im Vorlauf und 11,30 Sekunden im Halbfinale blieb sie deutlich unter ihren Möglichkeiten. Keine Glücksgefühle, keine Hopser. "Das war definitiv keine Glanzleistung", sagte Lückenkemper. "Irgendwas stimmt nicht." Und wer sie in Doha beobachtete, musste davon ausgehen, dass das nicht nur für die muskulären Probleme galt, die sie in ihren Beinen gespürt hatte.

Lückenkemper und ihre Kollegin Tatjana Pinto hatten die große Chance, etwas lange Unerreichtes zu schaffen: 1997 in Athen war Melanie Paschke die letzte Deutsche, die einen WM-Endlauf erreicht hatte. Und Lückenkemper und Pinto hätten mit Bestzeiten von 10,95 und 11,00 Sekunden im Finale sogar die Ränge fünf und sechs belegen können - wären sie eben nicht vorzeitig ausgeschieden. Pinto war in ihrem Halbfinale mit 11,29 Sekunden eine Zehntel langsamer als im Vorlauf. "Bis 50 Meter ist alles perfekt gelaufen, dann habe ich irgendwie die Kontrolle über die Beine verloren", sagte Pinto, "vielleicht liegt das daran, dass ich zu sehr unter Strom stand". Über 200 Meter lief sie am Montag in neuer persönlicher Bestzeit von 22,63 Sekunden ins Halbfinale. Die 27-Jährige hatte schon bei der EM im Vorjahr mit dem Ischiasnerv zu kämpfen, konnte an die WM noch gar nicht denken. Im Gegensatz zu Lückenkemper, deren Karriere bisher nur eine Richtung kannte: nach oben.

Die WM in Doha ist ja schon Lückenkempers dritte bei den Profis, was für eine 22-Jährige ein erstaunlicher Erfahrungsvorsprung ist. Sie war sehr früh sehr schnell, und als ihre Schulfreunde Abiball feierten, lief sie bei Europameisterschaften. Wo Lückenkemper war, war Leichtigkeit. Sie wurde zum Aushängeschild der Staffel. Doch dass die Zeit des Reinwachsens in diese Szene irgendwann endet, merkt Lückenkemper gerade: Nun geht es darum, sich zu behaupten. Und das fällt ihr in diesem Jahr besonders schwer. "Natürlich ist das Jahr nicht so für mich gelaufen, wie ich es gerne hätte", sagte sie, "ich weiß aber auch warum und weiß, was bei mir in den letzten Wochen privat so passiert ist. Dann ist das halt so, dann muss ich das hinnehmen. Dann muss ich einfach gucken, wie es weitergeht." Und das klang dann nicht danach, als hätte sie sich zuletzt ideal auf die WM vorbereiten können.

Optimal lief es dann auch vor Ort nicht. Zuerst hatten sie die Startblöcke überrascht, die mit neu installierten Kameras die Athletinnen durch die Beine von unten durchs Gesicht filmen. "Ich finde die Kameras nicht ganz so geil", hatte Lückenkemper gesagt und nach Protest mehrerer Verbände wurde den Athleten zugesichert, dass beim Einstieg in den Block nur geschwärzte Bilder in der Regie landen und 24 Stunden später komplett gelöscht werden. In der Nacht vorm Halbfinale plagten Lückenkemper zudem Rückenprobleme, die ins Bein ausstrahlten. "Die sind im Warmup eher schlimmer geworden als weniger", sagte sie, war aber gleichermaßen optimistisch, dass sie bis zu den Staffelvorläufen am Freitag rechtzeitig fit würde. "Wenn wir jetzt schnell genug reagieren, kann das schnell genug wieder weggehen."

Und dann war da noch die Sache mit dem Kopf. Daraus, dass sie der Leistungs- und Erwartungsdruck nach der EM-Medaille vom Vorjahr auch belastet, hat Lückenkemper nie ein Geheimnis gemacht. Sie nahm sich vor dem Abflug nach Doha noch mal eine Auszeit und hielt die mentalen Probleme nach dem Vorlauf für überwunden: "Sonst hätte es hintenraus nicht so gut funktioniert nach so einem grauenhaften Start." Auch im Halbfinale kam sie mit der schlechtesten Reaktionszeit von 0,209 Sekunden aus dem Block, dann allerdings nicht mehr "ins Fliegen".

Lückenkemper trainiert übers Jahr ohne Trainingsgruppe, hat meistens nur bei Wettkämpfen jemanden neben sich im Startblock sitzen. Ob sie für die kommende Olympiasaison etwas ändern wolle, wurde sie nun in Doha noch gefragt. "Aktuell bin ich hier bei einer WM und ich konzentriere mich nicht darauf, was im nächsten Jahr ansteht", sagte sie.

© SZ vom 01.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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