Deutsche Mannschaft:Wegweisend

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Erstmals dürfen die Fans mitentscheiden, wer die deutsche Fahne trägt: Die Casting-Show gewinnt der zurückhaltende Tischtennis-Profi Timo Boll.

Von René Hofmann

Gut, dass es im Deutschen Haus im Barra Blue Beach Point eine Treppe gibt. Über die konnte der erste Gewinner der Sommerspiele am Ende seiner Kür standesgemäß vor das gebannt wartende Publikum schreiten. Aber nun ja, wer Timo Boll schon einmal gesehen hat, der ahnt, dass das mit dem Schreiten nicht so recht klappte. Im Trainingsanzug schlurfte der Tischtennis-Profi mehr, als dass er schritt. Die große Freude aber, die war ihm durchaus anzusehen. Als Fahnenträger wird Boll dem deutschen Team in der Nacht zum Samstag bei der Eröffnungsfeier vorausgehen. "Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll", war das Erste, was Boll einfiel, nachdem er von Michael Vesper, dem Chef de Mission, mit dem Satz "jetzt sach' was!" aufgefordert worden war. "Ich bin einfach nur stolz", sagte Boll etwas: "Das ist vielleicht noch einmal der Höhepunkt meiner Karriere."

"Als ich gehört habe, dass ich die Fahne tragen soll, war ich erst einmal sprachlos": Timo Boll spielt lieber, als große Reden zu schwingen. (Foto: Lars Baron/Getty Images)

Boll ist der erste Tischtennisspieler, der die deutsche Fahne tragen darf. Er folgt auf die Hockey-Spielerin Natascha Keller, die 2012 in London voranschritt, und auf den Basketball-Riesen Dirk Nowitzki, der 2008 in Peking das schwarz-rot-goldene Tuch sehr engagiert schwang. Für Boll, 35, sind es die fünften Olympischen Spiele. Seit mehr als zehn Jahren ist er im Spiel mit dem kleinen Ball Weltklasse. Er war die Nummer eins der Welt und holte 16 EM-Titel. Sportlich ist er erste Wahl. Er ist einer, mit dem sich Deutschland gut sehen lassen kann neben Weltsport-Größen wie Michael Phelps, der für die USA vorauslaufen wird, oder dem zweimaligen Wimbledon-Champion Andy Murray, der bei den Briten voranschreitet, und Rafael Nadal, der als erster Spanier einlaufen wird.

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(Foto: Rusty Kennedy/AP)

Olympia-Eröffnungszeremonien spiegeln immer auch die Seele der Gastgeber: Los Angeles 1984 glänzte durch individuelle Tricks wie den "Rocket Man".

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(Foto: Murad Sezer/Reuters)

London setzte 2012 auf die Queen, die (scheinbar) ins Stadion flog.

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(Foto: Itsuo Inouye/AP)

Peking entsandte 2008 ein Massenaufgebot von kollektiv agierenden Statisten.

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(Foto: Buda Mendes/Getty Images)

Wie wird sich Rio (Bild von der Probe im Maracanã-Stadion) in dieser Liste einreihen?

Überraschend kommt Bolls Kür nicht. Ungewöhnlich ist, wie sie zustande kam.

Der Deutsche Olympische Sportbund beteiligte erstmals die Öffentlichkeit. Fünf Kandidaten wurden zur Wahl gestellt: Neben Boll waren das Moritz Fürste, Doppel-Olympiasieger im Hockey, Ingrid Klimke, Doppel-Olympiasiegerin im Vielseitigkeitsreiten, Bahnrad-Olympiasiegerin Kristina Vogel sowie Lena Schöneborn, "die Ikone des Modernen Fünfkampfs in Deutschland" (O-Ton Vesper). Für jeden Kandidaten wurde wochenlang auf allen Kanälen getrommelt, die die modernen Medien so anbieten. Am Ende beteiligten sich rund 300 000 Interessierte an der Abstimmung. Eine Verbindung zwischen der Bevölkerung und dem Rio-Team sei so entstanden, schwärmt DOSB-Präsident Alfons Hörmann. Der kleine Hype hat angeblich auch die Präsidiumsmitglieder überzeugt, die zunächst dagegen waren, die Öffentlichkeit einzubeziehen.

Deutschland sucht den Fahnenträger: Die Aktion erinnert nicht zufällig an die Casting-Shows, die im Fernsehen populär sind. Jung und frisch und offen wollte der DOSB mit der Show erscheinen. Und Hörmann scheut auch nicht davor zurück, das Prozedere als wegweisend für seine komplette Organisation zu loben. Es zeige, dass man "offen, transparent und nach außen kommunizierend" die Menschen besser erreiche, so der DOSB-Vorsteher, der offenbar mit einigem Sendungsbewusstsein nach Rio gekommen ist.

Hörmann landete am Donnerstagmorgen. Bevor er Boll als Fahnenträger präsentierte, präsentierte er erst einmal ein paar grundsätzliche Gedanken, die ihm auf der Anreise gekommen waren. Nach den vielen Diskussionen um das russische Staatsdoping war es ihm ein Anliegen, das zu skizzieren, was er den "deutschen Weg" nennt.

"Insbesondere im Sinne der Völkerverständigung" sei es eine gute Wahl, findet der DOSB-Chef

Die Fokussierung auf Medaillen sei in Zeiten wie diesen "noch mehr in Frage zu stellen". Das Miteinander soll im deutschen Team im Vordergrund stehen, "nicht der krönende Erfolg des Einzelnen". Offen, bunt und vielfältig soll die Mannschaft sein, die Athleten sollen "bodenständig und nahbar" auftreten. Natürlich soll es auch um Siege gehen. Aber nicht um Siege um jeden Preis. "Wir wollen vorbildlich und mustergültig vorangehen", das ist Hörmanns Anspruch. Bolls Kür passt für ihn dazu perfekt. Es könne kaum einen besseren "Markenbotschafter des Teams Sportdeutschland geben", sagte der Erfinder des Teams Sportdeutschland. Boll stehe für "Respekt, Anstand und all die positiven Aspekte des Sports, insbesondere im Sinne der Völkerverständigung". Wohltönendes Wortgeklingel.

Wer genauer hinhörte, vernahm aber durchaus Dissonanzen. Wer warum vorausgehen darf - die Fahnenträger-Kür hat einen hohen Symbolgehalt, weshalb es schon interessant gewesen wäre, wie groß die Mehrheit für Boll denn genau war. Nach der offiziellen DOSB-Version war es so: Wählen konnten sowohl die Mitglieder der Olympiamannschaft als auch die Öffentlichkeit, wobei jede Gruppe zu 50 Prozent gewertet wurde. Hörmann deutete an, dass Boll in beiden Gruppen große Unterstützung hatte. Die Details der Abstimmung aber, die "werden für immer unser Geheimnis bleiben", so Hörmann. Ganz so offen und transparent lief es letztlich also doch nicht.

© SZ vom 05.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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