Deutsche Mannschaft:Arbeitsaufträge an alle

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Überragend: Hendrik Pekeler wurde zum besten Abwehrspieler der EM gewählt, im Angriff überzeugte er mit einer tadellosen Trefferquote. (Foto: Lisi Niesner/Reuters)

Nach Platz fünf zieht das deutsche Team Bilanz: Die Abwehr steht, der Angriff bleibt eine Baustelle, und auch sonst gibt noch zu tun. Ein Blick ins Hausaufgabenheft.

Von Joachim Mölter

Die deutschen Handballer sind EM-Fünfter, nachdem sie in der Finalrunde in Stockholm am Samstag Portugal 29:27 besiegten. Für die Auswahl des Deutschen Handballbundes (DHB) war die Platzierung freilich nachrangig, "für uns ist wichtig, was wir für Erkenntnisse mitnehmen", resümierte Bundestrainer Christian Prokop im Hinblick auf die Olympia-Qualifikation Mitte April in Berlin: "Da geht es nur um hopp oder top." Im Vergleich mit dem EM-Vierten Slowenien, dem WM-Fünften Schweden und einem afrikanischen Team müssen die Deutschen einen der ersten zwei Plätze belegen, um im Sommer in Tokio dabei zu sein, das ganz große, übergeordnete Ziel. Das Motto "Olympiasieg 2020" hatte der Verband einst ausgegeben, als die Männer nacheinander Olympia-, EM- und WM-Teilnahme verpasst hatten. Um die Vision vom Olympiagold zu realisieren, will Prokop "Arbeitsaufträge herausgeben, so dass wir in zweieinhalb Monaten bereit sind". Ein Blick ins Hausaufgabenheft der DHB-Handballer:

Weiter so

Nach wackligem Beginn hat sich die Defensive bei dieser Europameisterschaft stabilisiert und Olympiareife nachgewiesen. Das Torwart-Duo Andreas Wolff (Europameister 2016) und Johannes Bitter (Weltmeister 2007) ergänzte sich fast ideal, einer hielt immer überdurchschnittlich - sofern auch die Abwehr davor auf dem Posten war. In aller Regel standen Hendrik Pekeler und Patrick Wiencek sicher im Mittelblock und bildeten mit wechselnden Nebenleuten ein Bollwerk, das schwer zu überwinden war. Neben der Standardabwehr, der 6-0-Verteidigung, funktionierten auch offensivere Systeme wie das 5-1 oder das 3-2-1 mit vorgezogenen Spielern. Der meist an der Spitze agierende Pekeler ist nicht umsonst als bester Abwehrspieler der EM geehrt worden: Nur Kroatien und Schweden ließen weniger Gegentore pro Partie zu. Da gibt's nicht viel zu verbessern.

Steigerungspotenzial

Im Gegensatz zum Rückraum, "dort sieht man gegenüber den Medaillen-Kandidaten das größte Potenzial, das wir nicht ausgeschöpft haben", findet Prokop. Klar: Auf diesen Positionen fehlte ein halbes Dutzend Spieler und damit die gewohnte Abstimmung im Angriff. In der Kürze der Vorbereitungszeit war die nicht herzustellen, erst im Lauf des Turniers lief es besser. Philipp Weber deutete zumindest an, dass er mehr als nur eine Notlösung auf der Spielmacherposition sein kann, aber allein wird er die Geschicke der DHB-Auswahl nicht lenken können, wenn es um Olympia geht. Da braucht Prokop den ein oder anderen Rekonvaleszenten, wie Martin Strobel, 33, den Europameister von 2016. Oder er nimmt Marian Michalczik, 22, stärker in die Verantwortung, als er es sich bei dieser EM getraut hat. Solange Prokop keinen Weltklassemann im Rückraum hat wie die Medaillengewinner Spanien, Kroatien und Norwegen oder die Qualifikationsgegner Slowenien und Schweden, muss er diese Schwachstelle mit allen Mitteln schließen, mit einer kollektiven Teamleistung also.

Tempo, Tempo

Ein probates Mittel, um Defizite im Rückraum zu kompensieren, ist der schnelle Gegenstoß nach einem Ballgewinn in der Abwehr. Einfacher kommt man nicht zu Toren. Dieses Tempospiel war trotz des vierten Platzes bereits bei der Heim-WM 2019 als Manko festgestellt worden, auch bei der EM 2020 kam die DHB-Auswahl nur schwer in Schwung. Erst in der Hauptrunde nahm sie Fahrt auf, vor allem dank eines EM-Neulings, dessen Name dem Bundestrainer im Auftaktspiel noch entfallen war. In einer Auszeit fragte Prokop jedenfalls vor laufender Kamera: "Wie heißt Du?" Mittlerweile ist Timo Kastening einem größeren Publikum bekannt. Der Rechtsaußen wartete nicht auf Pässe, sondern ergriff selbst die Initiative und preschte als frecher Balldieb vor. An den Gegenstößen muss die Mannschaft trotzdem arbeiten: An Kapitän Uwe Gensheimer auf Linksaußen lief das Tempospiel nämlich vorbei, im Grunde das ganze Turnier.

Aufbauhilfe

Nach zwei vergebenen Siebenmetern samt einer roten Karte im Auftaktspiel gegen die Niederlande sowie zwei weiteren vergebenen Siebenmetern gegen Spanien, schmorte Gensheimer in dem als Schlüsselspiel deklarierten Duell mit dem Titelverteidiger die ganze zweite Halbzeit auf der Bank - dort bekommt natürlich kein Spieler Selbstvertrauen. Auch Julius Kühn, der einzige gefährliche Shooter aus der Tiefe des Rückraums, kam in jener Partie kaum zum Einsatz. So baut man wichtige Akteure im Kader nicht auf, stärkt man niemandem den Rücken und den Kopf. Ein Arbeitsauftrag ergeht deshalb auch an den Bundestrainer: seine Fähigkeiten als Psychologe zu optimieren, an seinem Gespür für mentale Komponenten zu feilen.

Reizfiguren

Christian Prokops Stärke ist zweifellos die sachliche Analyse; wenn er über Taktik doziert, ist er in seinem Element. Bei ihm hat man bisweilen das Gefühl, er wäre auf einem Lehrstuhl besser aufgehoben als auf einer Trainerbank, wo man vor allem Emotionen ins Spiel bringen muss. Aber für die Emotionen gibt es ja Bob Hanning, den Vizepräsidenten des DHB. Der schafft es immer wieder, Leute unter Strom zu setzen und unter Spannung zu halten, entweder mit seinen Äußerungen oder mit seinem Äußeren. Nach der Niederlage gegen Kroatien und dem damit verbundenen Halbfinal-Aus hat Hanning mit nur einem Satz eine schwelende Trainerdebatte befeuert, die nicht jedem gefiel, die aber ihren Zweck erfüllte: Die Mannschaft fühlte sich herausgefordert, sie ließ nicht nach, gewann die restlichen Partien und geht nun frohgestimmt in die Olympia-Qualifikation. Für die müssen sich die so unterschiedlichen Männer nun wieder zusammenraufen, der eher introvertierte Prokop in seiner schwarzen Trainingshose und der extrovertierte Hanning in seinem pinken Sakko, in seinen grellbunten Hemden. Beide wollen das Beste für den deutschen Handball, beide sind auf ihre Art Reizfiguren in der Branche, beide sind in bestimmten Kreisen umstritten, und nicht immer sind sie einer Meinung. Prokop haben die "Nebengeräusche" geärgert, wie er zugab. In seinem Resümee nach dem Spiel um Platz fünf bekräftigte er: "Für uns ist entscheidend, wie der innere Kreis denkt." Er dürfte Hanning in diesem Moment eher nicht zu diesem Kreis gezählt haben. Aber es hilft ja nichts: Wenn die deutschen Handballer im Frühjahr und im Sommer Feuerwerke zünden wollen, muss vorher irgendjemand Funken schlagen.

© SZ vom 27.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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