Der Tag danach:Dem Spektakel folgt der Weltschmerz

Lesezeit: 3 min

Oliver Kahn erlebt und erleidet beim Spiel gegen Real Madrid die schreckliche Verantwortung des Torwarts.

Von Philipp Selldorf

München - Am nächsten Tag wirkte Oliver Kahn zerknirscht wie nach einer langen Nacht am Tresen. Belegt war die Stimme, zerfurcht das Gesicht, und dem Gemüt ging's auch nicht besser, wie der Torwart des FC Bayern am Rande des morgendlichen Trainings den Reportern eröffnete. "In diesem Geschäft können sich innerhalb von Zehntelsekunden Welten verändern", stellte er fest und schaute müde in die Runde.

"So einen Ball musst du halten" - Kahn am Tag danach über Kahn. (Foto: Foto: AP)

Oliver Kahns Welt als gefeierter und von Patagonien bis Ostsibirien gefürchteter Torwart-Titan geriet aus den Angeln, als er nach 83 Minuten der Champions-League-Partie zwischen Bayern München und Real Madrid einen Freistoß von Roberto Carlos in Empfang nahm.

Es war ein Schuss, der dem Spiel der Spanier an diesem Abend würdig war: Mit halber Kraft getreten, irgendwie Richtung Tor gefeuert, ohne Geist und ohne Witz. Ein Schuss also, den auch 100.000 namenlose Hobbytorhüter gehalten hätten.

Doch Kahn ließ den Ball zum 1:1 passieren, unter dem Bauch rutschte er schlapp hindurch, was ein besonders peinliches Bild abgab, weshalb nach der Partie weniger von der mysteriösen und wirklich verwirrenden Leistungsexplosion der Münchner die Rede war als vom unseligen Torwart.

Kahn versuchte kein Leugnen: "So einen Ball musst du halten - da kannst du auch ohne zwei Arme oder Beine spielen."

Im Moment des 1:1 erschloss sich die schreckliche Verantwortung des Torwarts für die Mannschaft - und manchmal gleich für den kompletten Klub: Kahns Fehler kehrte den Vorteil des FC Bayern vor dem Rückspiel in Madrid in 14 Tagen in einen womöglich entscheidenden Nachteil, und er eliminierte ein Ergebnis, auf das die Münchner vorher kaum zu hoffen gewagt, das sie durch ihren furiosen Auftritt aber reichlich verdient hatten. "Wir sind alle sauer und enttäuscht", erzählte Torschütze Roy Makaay.

Bei den Nachbetrachtungen des Spiels konnte deswegen nur noch eine idealistische Auslegung Trost spenden. "Man muss halt auch mal mit einem 1:1 zufrieden sein, vor allem, wenn man wesentlich besser war als die beste Mannschaft der Welt", sagte Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge und rechnete die Chancen aufs Weiterkommen freundlich: "Ich hab vor dem Spiel gesagt, dass sie bei zehn Prozent liegen, jetzt erhöhe ich auf 40 Prozent."

Furcht vor der Blamage

So bleibt dem Team immerhin ein Ansehensgewinn nicht nur bei den Vorgesetzten und den oft genug verärgerten Fans, sondern auch endlich wieder auf der großen Bühne des Fußballs. Denn mehr als die Niederlage und das Ende in der Champions League fürchteten die Bayern die Blamage vor großem Publikum.

Umso verblüffender, wie sie mit wilder Entschlossenheit die Idole aus Madrid überfielen, sich taktisch und spielerisch Überlegenheit verschafften und Spieler wie Hargreaves, Demichelis und Zé Roberto zu ungekannter Größe wuchsen. "Von der ersten Minute an hat alles gut geklappt", staunte Roy Makaay.

"Die Mannschaft hat gute Qualität wenn sie kämpft und läuft, wenn man sich einander unterstützt und Spielfreude entwickelt", sagte Rummenigge, und das klingt zwar nach einer Selbstverständlichkeit, ist tatsächlich aber ein fundamentaler Erkenntnisgewinn.

Heilung im eigenen Ich

Als Rummenigge in der Kabine vor den frustrierten Spielern sein großes Lob sprach, hatte sich Kahn schon hastig auf den Heimweg gemacht ("Nach so einem Spiel hast du nur noch Fluchtgedanken im Kopf"), um sich wieder mit seinem persönlichen Weltschmerz zu plagen.

Bei ihm ist es leider nicht so einfach wie beim Kollegen Lizarazu, der in zwei, drei Wochen seinen Muskelfaserriss auskuriert haben wird, denn Kahn sucht Heilung im eigenen Ich. "Ich werde jetzt in mich gehen, mich fragen, warum diese Dinge passieren und meine Schlüsse ziehen", kündigte er mit düsterer Miene an.

Und noch nebulöser wurde es, als er versprach, erfahren zu wollen, "was eigentlich so abläuft um einen herum - ist es das eigentlich wert?"

Solche grundsätzlichen Anwandlungen hat Kahn zwar öfter, aber diesmal fallen sie in eine sportlich prekäre Phase: Es war ja nicht der erste Fehler des Torwarts in diesem jungen Jahr, weshalb die Sticheleien seines Nationalelfrivalen Jens Lehmann ihn auch mehr bewegen als er zugeben mag.

Kahn rätselt nun, was er tun soll: "Früher habe ich es immer so gehalten, dass ich noch mehr gearbeitet habe. Nur: Dann komme ich ja gar nicht mehr heim." Noch mehr Training und noch mehr felsenharte Muskelmasse auf den Schultern dürfte in der Tat nicht das richtige Rezept sein.

Statt Athletik fehlt ihm eher die Geschmeidigkeit (übrigens ein Vorteil von Jens Lehmann). Und auch seine Verbissenheit wird er hoffentlich nicht mehr steigern wollen. "Vielleicht ist es alles auch ein bisschen zu verkrampft", ahnt der Schlussmann - und kann doch nicht anders.

"Dann muss ich halt dieses Spiel in Madrid allein gewinnen", stellte er gleich wieder höchste Ansprüche an sich selbst.

"Das gehört zu seinem Leben"

Für Trainer Ottmar Hitzfeld ist es nichts Neues, dass der Torwart mit dem Trost der Kollegen und dem ausdrücklichen Respekt berühmter Gegner wie Luis Figo und David Beckham nichts anzufangen weiß ("Am besten lässt man mich jetzt einfach in Ruhe", meint er), sondern Bestätigung in weiteren Heldentaten sucht: "Das gehört zu seinem Leben", weiß er, "Oliver Kahn wird sich immer unter Druck setzen."

So hat nach einem Spektakel mit unglücklicher Pointe neue Hoffnung auf den Aufbruch in bessere Zeiten den FC Bayern erfasst. Zwei Wochen lang dürfen sie dran glauben, und dann, sagt Rummenigge, "werden wir sehen, ob wir nicht doch noch das Wunder von Madrid erleben".

© SZ vom 26.2.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: