Das Rückspiel:Weiße Bestien

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Aus der Traum vom Doppel-Triple: Die Bayern erleiden beim 0:4 gegen Real Madrid einen der frustrierendsten Abende der Klubgeschichte.

Von Christof Kneer

Das Wort "Ballbesitz" zählt nicht zu den schlimmsten, aber auch nicht zu schönsten Wörtern der deutschen Sprache. Zumindest in München gäbe es zurzeit deutlich schönere Substantive, den "Heimsieg" etwa, vielleicht sogar "das Umschaltspiel", auf jeden Fall aber "das Königsklassenfinale". Aber es hilft ja nichts: Der Ballbesitz macht jetzt Karriere.

Pep Guardiola war irgendwas gefragt worden in der Pressekonferenz nach dem wuchtigen 0:4 gegen Real Madrid, es war die erste Frage einer längeren Fragerunde, und in Guardiolas Antwort kam dauernd dieses Wort vor, auf Deutsch, mit Pep-typischer Betonung auf der dritten Silbe. Ba llbesítz, Ballbesítz, Ballbesítz!Das Wort kam auch in vielen anderen Pep-Antworten vor, es fiel auch dann, wenn er nach Standard- situationen gefragt wurde, nach den Lehren aus diesem furchtbaren Abend oder nach Javi Martínez. Die aus ungefähr 1001 Ländern angereisten Reporter werden dieses nicht schlimme, aber auch nicht schöne deutsche Wort jedenfalls alle mit auf die Heimreise nehmen: Ballbesítz.

Wie Guardiola tickt, wie er das Spiel begreift, dem er sich mit manischer Leidenschaft verschrieben hat, das alles hat man vielleicht noch nie so gut verstanden wie nach der bisher erbarmungslosesten Niederlage seines Trainerlebens. Dieses 0:4 im Rückspiel des Champions-League-Halbfinales war die höchste Pflichtspiel-Niederlage seiner Trainerkarriere, die zweithöchste war kürzlich das 0:3 gegen Dortmund. Es sind gerade schwere Tage für diesen Trainer, der das Glück und das Pech hat, sich mit Niederlagen nicht gut auszukennen. Und jetzt so ein Ergebnis vor den Augen der Welt, mit lauter spanischen Reportern im Presseraum, Guardiola war bewegt und aufgewühlt, und beim Versuch, das Scheitern des Projekts Triple- verteidigung zu erklären, hat der Künstler für ein paar Momente tief in jenes Atelier blicken lassen, in dem er sich seinen speziellen Fußball zurechtmodelliert.

Es geht dabei, verkürzt gesagt, um posesión de balón. Um Ballbesítz.

Der Trainer sei "nicht gut gewesen heute", hat Guardiola später gesagt, er habe taktisch "einen Riesenfehler gemacht". Womöglich war da ein bisschen Koketterie dabei, aber im Grunde war es Guardiola bitterernst mit seinem Geständnis. Er war und ist der tiefen Überzeugung, dass er einen Fehler begangen hat. Aber er meint einen anderen Fehler als die Leute, die sein mea culpa aufgeregt weitermeldeten.

Auf einer oberflächlichen Ebene betrachtet könnte man dieses 0:4 ja so lesen: Die Bayern waren ein dankbares Opfer für Real, weil sie inzwischen zu offen spielen; weil sie sich an der Balance versündigen und weil sie Wucht für überschätzt halten; weil sie zu viel auf diesen Tiki-taka-schnicki-schnacka-Ballbesitz-Fußball vertrauen; weil sie, mit anderen Worten, zu viel Pep spielen. Pep dagegen findet, dass seine Elf zurzeit viel zu wenig Pep spielt.

Gegen Real hatte ein fahriger FC Bayern tatsächlich viel weniger Ballbesitz als sonst.

Spätestens als Guardiola beim Stand von 0:3 seinen Landsmann Martínez zum Warmlaufen schickte, hatte das Spiel ja seine überwölbende Personalie gefunden. Wie kann man so einen Wellenbrecher draußen lassen gegen ein Team wie Real, das dank Passspielern wie Modric und Sprintern wie Ronaldo und Bale die mächtigsten Konterwellen der Welt produziert? Diese Frage darf man stellen, und Guardiola räumte später auch ein, dass Bastian Schweinsteiger und Toni Kroos überfordert gewesen seien von der Gewalt dessen, was ihnen da entgegenschwappte. Trotzdem hält Guardiola die Frage im tiefsten Innern für falsch gestellt. Er ist überzeugt: Hätte seine Elf Pep-Fußball gespielt, wären die Wellen gar nicht erst entstanden.

"Wir haben zu wenig mit dem Ball gespielt", sagte Guardiola, "wir hatten keine Kontrolle, und wenn du keine Kontrolle hast, kannst du Konter nicht verhindern." Sätze, die geeignet sind, um unter dem Schlagwort "Pep-Fußball" in die Fußball-Kompendien aufgenommen zu werden, denn genau so sieht dieser Trainer dieses Spiel: Zwar hängt alles mit allem zusammen, aber der Ausgangspunkt von allem ist der Ballbesitz. Wer keinen Zugriff auf den Ball hat, der findet auch keinen Zugriff aufs Spiel und auf den Gegner - das ist Peps unumstößlicher Glaubenssatz, den er bis in die banalsten Details ausweitet. Ob es ein Fehler sei, bei Standardsituationen im Raum und nicht gegen den Mann zu verteidigen, wurde Guardiola angesichts der beiden frühen Gegentore gefragt, die aus einer Ecke und einem Freistoß resultierten. Raum- oder Mann- deckung sei "kein so großer Unterschied", hat er geantwortet, "wenn du das Spiel nicht kontrollierst, verteidigst du auch bei solchen Dingen nicht konzentriert genug".

So versteht Guardiola Fußball: Eine Pep-Mannschaft fühlt sich wohl, beschützt und unverwundbar, wenn sie Ball und Spiel kontrolliert; und wenn sie sich wohl, beschützt und unverwundbar fühlt, ist sie auch bei Defensivkopfbällen nach Eckbällen und Freistößen rechtzeitig zur Stelle.

Die spannende Frage ist nun, was es für Bayern bedeutet, dass der Trainer seine katalanisch-intellektuellen Schlüsse aus so einem 0:4 zieht. Er hat mit meine Schuldund Riesenfehler ja nicht gemeint, dass er künftig deutscher spielen will; er hat damit auch nicht gemeint, dass er künftig immer Martínez aufstellt, der nicht aus dem Barça-Labor stammt, den Guardiola aber trotzdem schätzt. Was der Trainer sich vorwirft, ist eher das Gegenteil: einen Verrat an sich selbst. Er hat den Ball verraten und die Idee von der posesión de balón.

"Ich hatte heute nur zwei Mittelfeldspieler", sagte er, er meinte Kroos und Schweinsteiger. Davor spielten Ribéry, Robben, Müller und Mandzukic, faszinierende Typen, deren spezielles Aroma auch Pep lieben gelernt hat - aber keiner von ihnen ist ein Ballbesitz-Spieler, keiner garantiert den klassischen Pep-Style, und so dürfte der Trainer mit jeder Spielminute mehr zu der Erkenntnis gelangt sein, dass vier Nicht-Pep-Spieler in der Offensive vielleicht zu viel waren an diesem Abend - zumal jene Mittelfeldspieler, denen er das Pep-Spiel am liebsten anvertraut, entweder verletzt fehlten (Thiago) oder von Pep persönlich aus dem Zentrum entfernt wurden (Lahm). Guardiola hat sich offenbar irritieren lassen von den Ballbesitz-Debatten, von jenen Raunern, die sein System zuletzt hinterfragt haben, er hat sich zu seiner Aufstellung verleiten lassen, die er offenbar gar nicht machen wollte.

Er könne nur spielen, "was ich fühle", hat er gesagt und einen brisanten Satz angefügt: "Wir müssen uns Gedanken machen, ob das mit unseren Spielern das beste Rezept ist." Dass Guardiola seine Idee anzupassen versteht, hat er in der Saison schon oft genug bewiesen, aber opfern wird er die Idee nicht; also werden Trainer und Klub damit leben müssen, dass dieser Satz nun in Richtung Mannschaft interpretiert wird. Guardiola wird dieses 0:4 so werten, dass sein Spielentwurf verwässert und unleserlich wird, wenn er in der Aufstellung zu viele Kompromisse macht. Was das für die Personalplanung bedeutet, ob der Trainer neue Spieler braucht oder ein paar alte nicht mehr so dringend - das müssen nun die hohen Herren entscheiden.

Dass das keine kleine Entscheidung werden wird, lassen sogar die Beschwichtungsversuche erahnen. Man müsse jetzt "rational bleiben", hat der Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge gesagt, und man müsse "die Nerven behalten".

© SZ vom 24.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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