Chiles Angreifer Vargas:Der mysteriöse Turboman

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Im roten Nationaldress von Chile ein Torgarant: Stürmer Eduardo Vargas (links), hier im Confed-Cup-Spiel gegen Australien. (Foto: Kirill Kudryavtsev/AFP)

Das größte Rätsel des Weltfußballs heißt Eduardo Vargas. Der Stürmer und Ex-Bundesligaspieler trifft regelmäßig für Chile - aber fast nie für seine Klubs.

Von Javier Cáceres

Sie nennen ihn "Turboman" im heimischen Chile, doch nicht immer kommt es gut an, wenn Eduardo Vargas aufs Gaspedal drückt. Ein paar Tage vor Beginn des Confed Cups veröffentlichte Vargas in einem Sozialnetzwerk ein Video, das zeigte, wie er am Steuer eines Ferrari saß. Mit 119 Stundenkilometern bretterte Vargas, 28, innerstädtisch durch Santiago de Chile. Dessen Ferrari blieb heil, anders als vor ziemlich genau zwei Jahren jener seines Teamkollegen Arturo Vidal. Und Vargas war auch nicht alkoholisiert wie Verteidiger Eugenio Mena, der kurz vor dem Turnier, in dem Chile an diesem Mittwoch im Halbfinale auf Portugal trifft, auf einer chilenischen Autobahn das Tempolimit von 120 um 44 Stundenkilometer sprengte. Mit 1,16 Promille im Blut.

Doch auch die Empörung über Vargas war ein paar Stunden lang ziemlich groß im langen Land: Was, wenn ein Unfall passiert wäre? Nun hat sie sich gelegt, denn Vargas macht gerade wieder das, was er am besten kann: für Chiles Nationalelf ins gegnerische Tor zu treffen. Oder muss man sagen: das Einzige, was er kann? Denn Vargas trifft für die Nationalelf am Fließband - für seine Klubs jedoch kaum.

Für Chile erzielte Vargas beim Confed Cup gegen Kamerun bereits seinen 34. Treffer. Das ist für chilenische Verhältnisse eine sehr ansehnliche Marke. Dem vom FC Bayern umschwärmten Alexis Sánchez (FC Arsenal) gelang beim 1:1 gegen Deutschland auch erst sein 38. Tor im Dress der Chilenen, er löste damit den längst zurückgetretenen Marcelo Salas (37) als Rekordschützen ab. Vargas steht an Nummer drei, kann aber darauf verweisen, dass er bei den Copa-América-Turnieren von 2015 und 2016 jeweils der Torschützenkönig wurde.

Das Frappierende aber ist, dass Vargas mit 34 Toren für Chile nur noch einen einzigen Treffer braucht, um genauso viele Tore erzielt zu haben wie in sieben Vereinen seit Beginn seiner Nationalmannschaftskarriere im Jahr 2011. Denn für Universidad de Chile, SSC Neapel, Gremio Porto Alegre, FC Valencia, Queens Park Rangers, TSG 1899 Hoffenheim und seit Januar 2017 beim mexikanischen Erstligisten Tigres UANL - traf er 35 Mal - insgesamt.

Längst stellen sie sich auch in Mexiko die Frage, die bereits durch Italien, Brasilien, England und Deutschland geisterte: "Warum ruft er bei Tigres nicht die Leistungen ab, die er in der Nationalelf liefert?", sagt der Tigres-Legende Osvaldo Batocletti. Die Mexikaner bekamen den "Turboman" besonders zu spüren: Im vergangenen Jahr traf er bei Chiles 7:0-Sieg gegen Mexiko in der Copa América gleich vier Mal in einem Spiel, für Tigres kam er in einem halben Jahr auf drei Tore. Derart dünn war die Ausbeute, dass ein chilenischer Kultstürmer der 70er, Leonardo Veliz, vor dem Confed Cup forderte, Vargas auf die Bank zu setzen.

Doch dann spielte Vargas doch - und traf wie gewohnt, um das Unerklärliche noch unerklärlicher zu machen. Was nur ist es, was ihn verwandelt? Der Aberglaube, der dazu führt, dass er sich - wie Arturo Vidal oder Gary Medel - am Vorabend einer Partie von einem Coiffeur namens "Jota Master Barber" frisch frisieren lässt? Oder die Marotte, dass er vor den Partien stets den Fuß der Stutzen abschneidet?

Wohl kaum. Es dürfte eher daran liegen, dass der durchaus introvertierte Stürmer sich im Kreis seiner Nationalelf noch am ehesten an sein angestammtes Habitat erinnert fühlt. Dort trifft er auf Spieler, die in ähnlichen Verhältnissen aufgewachsen sind, die also im übertragenen Sinne seine Sprache sprechen. Denn wie Vidal, Medel oder Sánchez hat auch Vargas das Elend gesehen und sich herausgeboxt.

Vargas stammt aus Renca, einem so genannten Problemviertel nahe des Flughafens von Santiago. Auch jetzt noch kehrt er gern dorthin zurück, obwohl Vargas finanziell der Kargheit und Probleme seiner einstigen Nachbarn längst entwachsen ist - und sei es, um auf dem Berg in Renca einen Drachen in den Himmel steigen zu lassen. So wie damals, als er als Kind auf staubigen Plätzen aufwuchs, statt in den Jugendakademien der Großklubs. Denn bei denen fasste er nie Fuß.

Stattdessen spielte er bei Internacional Renca, einem Klub, den sein Opa vor Jahrzehnten gegründet hatte. Als er 14 war, rief ihn ein Verein aus Lo Barnechea zu einem Jugendturnier, wo er zusammen mit Arturo Vidal Torschützenkönig wurde - und Vidal die Trophäe abtrat, weil Vargas zwei Jahre jünger war. Danach wurde Vargas für einen Fernseh-Nachwuchswettbewerb rekrutiert, eine Reality-Soap, die auch gut "Chile sucht den Superstar" hätte heißen können. Vargas schaffte es bis ins Halbfinale, obwohl seine Familie nicht das Geld hatte, um an den Telefon-Abstimmungen teilzunehmen. Später wurde ein chilenischer Erstligist auf ihn aufmerksam, CD Cobreloa, und holte ihn in die Atacama-Wüste. Doch dort wurde er genauso wenig heimisch wie an den späteren Orten seines Schaffens, er weinte seiner Mutter am Telefon die Ohren voll. "Eduardo ist ein Spieler, der viel Zuneigung braucht, er spürt, wenn man schlecht über ihn redet", sagte Vidal dieser Tage in Russland.

"Eduardo wird uns helfen, den Confed Cup zu gewinnen", sagt Bayern-Profi Arturo Vidal

Zuneigung? Damit hatten sie es natürlich auch in Hoffenheim versucht. Dort stehen sie bis heute vor dem selben Rätsel, das nun die Mexikaner umtreibt, und das darin besteht, dass man nicht weiß, warum man Vargas' Talente nicht zur Entfaltung bringen konnte. Die sind enorm: Vargas ist ein spielender Mittelstürmer, technisch beschlagen, trotz einer Körpergröße von 1,75 Metern überaus robust und mit einem guten Schuss gesegnet: Beim 1:1 gegen Deutschland jagte er den Ball nach 20 Minuten spektakulär an die Querlatte.

Zur Erinnerung: Vargas landete 2015 in Hoffenheim, blieb anderthalb Jahre, doch nicht nur die Sprachbarriere blieb trotz Übersetzer ein Hindernis. Sein Faible für Coca-Cola entsprach auch nicht dem, was von einem Profi im 21. Jahrhundert erwartet wird. Und auch sonst warf sein Verhalten Fragen auf. Die Wände der Katakomben der Münchner Arena erzählen noch immer, wie er vor einem Spiel beim FC Bayern zusammengestaucht wurde. Er hatte sich im Kabinengang mit Kumpel Arturo Vidal verplappert, als Hoffenheims damaliger Trainer Huub Stevens drinnen längst die taktische Ansprache hielt. Mit demselben Vidal, der jetzt in Russland eine Gewissheit hat: "Eduardo wird uns sehr helfen, Champions zu werden."

© SZ vom 28.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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