Chaos bei 1860:Verein im Ausnahmezustand

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Am Tag, an dem die Polizei Einzug hält, beherrschen Sprachlosigkeit und Entsetzen den TSV 1860 - und Hoffnung auf einen Neuanfang.

Von Gerald Kleffmann

Fassungslos steht der Rentner Matthias Müller, 63, vor dem Schild, er schüttelt den Kopf. "Geschäftsstelle vorübergehend geschlossen", liest er laut vor, starrt wie hypnotisiert. "Ich hoffe, dass das nicht das Ende des TSV ist", sagt er nach einer Pause, er klingt niedergeschlagen.

Seit 40 Jahren ist er Fan des Fußballvereins TSV 1860 München, er verfolgt jedes Spiel. Und nun das. Die Eingangsschranke zum Klubgelände ist zu. Niemand darf passieren. 25, 30 Reporter stehen davor, überall Kameras und Mikrofone. Und Gedränge, Geschubse, Durcheinander an der Grünwalder Straße 114.

Von der Außenwelt abgeschnitten

Der TSV 1860 am 9. März 2004 - ein Verein im Ausnahmezustand. Der Tag beginnt wie im Krimi. Zwischen halb neun und neun Uhr fahren Ermittlungsbeamte des Landeskriminalamts und Vertreter der Staatsanwaltschaft bei den Löwen vor. Noch ahnt keiner auf dem Gelände, was folgen wird.

Eine Stunde später erste Aufregung. Zwei Sicherheitsleute erscheinen, schieben die Stahlpforte zu, hängen das Schild auf. Die Außenwelt ist ab sofort vom Verein abgeschnitten. Die ersten Journalisten kommen angehetzt, erleben ein skurriles Bild.

Beamte führen Karl-Heinz Wildmoser junior, den Geschäftsführer des Fußballvereins, ab. "Er wurde richtig rausgedrängt", sagt ein Passant, der zufällig vorbeikam und die Szene beobachtet hatte. Gegen 11.20 Uhr wieder Aufregung, der ermittelnde Staatsanwalt Stefan Hock tritt aus dem Geschäftsgebäude.

Das Stadion - Eine Nummer zu groß für die Löwen?

Sein Statement: "Wir haben den Beschluss des Münchner Amtsgerichts vollzogen." Mehr sagt er nicht. Muss er auch nicht. Mittlerweile weiß ganz München, dass Präsident Karl-Heinz Wildmoser und sein Sohn in einen Bestechungsfall verwickelt sind.

Es ist kurz vor zwölf, das Publikum wird größer. Rentner, Schüler, auch zwei ältere Frauen um die 60 sind da. Die Neugier hat sie hergetrieben. Ein Mann mit rahmenloser Brille und Fastglatze räsoniert: "Ich habe mir nie Gedanken um die Finanzierung des neuen Stadions gemacht, so etwas läuft ja immer um tausend Ecken." Stille. "Vielleicht war das alles einfach eine Nummer zu groß für die Löwen."

Vielleicht - noch muss spekuliert werden. Offizielle des Vereins sind bisher nicht erschienen, Sportdirektor Dirk Dufner soll sich im Gebäude befinden, Anwälte des TSV, Aufsichtsratsmitglieder. Es wird viel vermutet, auch Guido Kambli kann wenig aufklären.

Zwei Kisten auf dem Rücksitz

Kambli ist der Anwalt der beiden Wildmosers, er verlässt kurz nach zwölf das Gelände. Seine Wortspende: "Keine Aussage zu einer laufenden Ermittlung." Er geht, Kamera-Teams rennen hinterher. Vergebens. Kambli redet nicht.

Nun aber fährt rasant ein BMW vor, ein weißbärtiger Mann sitzt am Steuer. Er ist allein, der Innenraum des Wagens leer. Er hupt, bahnt sich eine Schneise durch die Menge. Eine Stunde später saust er wieder davon, diesmal sind sie zu zweit, auf dem Rücksitz sind zwei Kisten zu erkennen. Eine aus Pappe, eine aus blauem Plastik. Abermals ein Staatsanwalt? Sieht so aus.

Christl kommt. Christl, so nennt sie hier jeder, leitet das Löwenstüberl und ist die Seele des Vereins. Sie hat geweint, nun sind ihre Tränen getrocknet, sie streicht sich nervös durch die blonde Mähne. "Ich kann nichts dazu sagen, er ist ja immer noch mein Präsident", teilt sie auf der anderen Seite der Pforte durchs Gitter mit.

"Jawoll, der Wildmoser ist weg"

Sie ist loyal, dafür lieben sie viele Leute im Verein. Und sie hat ein Herz. "Wollt's Ihr was Warmes trinken?", fragt sie die Reporter, mittlerweile knapp 50. Zehn Minuten später bringt sie schwarzen Tee, Kaffee und belegte Brötchen. "Jawoll, der Wildmoser ist weg", schallt es aus der hinteren Reihe.

"Da, der Kurt", ruft ein Reporter. Die meisten drehen sich um, es ist 12.17 Uhr. Kurt Sieber, Vizepräsident des TSV, schlendert gemächlich mit Zigarillo im Mund Richtung Eingang. Er spricht ruhig wie ein Pfarrer in der Predigt. "Ich weiß doch auch nicht mehr als ihr. Lasst's mich erst mal rein gehen."

Als er im Gebäude verschwindet, fangen zwei Männer mit Altherrenhüten zu diskutieren an. "Der Sieber wird's jetzt", meint der eine. "Ja", sagt der andere. Sie lächeln. Offenbar sind sie den Wildmosers nicht wohlgesonnen.

Miniradio an der Lenkstange

Halb eins, immer noch gibt es keine offizielle Aussage des Vereins. Ein Rentner mit Fahrrad bleibt stehen. "Wos is' passiert?" Ihm verschlägt es die Sprache. Sofort wird er umringt von zehn, zwölf Reportern. "Psst", brüllt einer plötzlich, "dreh' das Radio auf!"

Der Rentner hat auf der Lenkerstange ein Miniradio installiert, der Sender berichtet über die Wildmosers. Münchens Oberbürgermeister Christian Ude, Mitglied im Aufsichtsrat des TSV 1860, wird interviewt. Zwanzig Mikrofone sind auf das Radio gerichtet, Ude spricht - "bin empört", "muss schnelle Konsequenzen geben", solche Dinge.

Aber was machen eigentlich die Profifußballer des TSV? Sie telefonieren. Die Spieler, heißt es, riefen sich gegenseitig an und tauschten Informationen aus. Auf dem Gelände ist noch kein Profi zu sehen, Training ist erst um 15 Uhr. Es soll trotz allem stattfinden.

Was machen eigentlich die Profifußballer?

Um kurz vor halb zwei brechen panikartige Zustände unter den Reportern aus. Sportdirektor Dufner, Aufsichtsratschef Lehner und Vizepräsident Sieber stellen sich der Öffentlichkeit (siehe unten stehenden Bericht). Sie teilen sachlich die Ergebnisse ihrer Sitzung mit, von hinten schiebt sich die Reportermasse beängstigend nahe an die drei Männer heran, die zwischen Pforte und Menschen eingezwängt sind.

Jetzt trudeln auch die ersten Profis ein. Remo Meyer. Torben Hoffmann. Auch Trainer Falko Götz ist schon da. Von allen die gleiche Botschaft: kein Kommentar. Immerhin: Das Training findet statt. Nach dem Weggang von Dufner und Co. löst sich das Durcheinander auf. Nur um einen Mann scharen sich noch einige Journalisten.

Neue Zeitrechnung beim TSV 1860 München

Er ist groß, hat einen schönen Weißbierbauch, Brille, blaue Mütze. Rudi Reiser heißt er. Er poltert eloquent wie ein Politiker in jedes Mikrofon. "Die immer dem Wildmoser hinterherlaufen, müssen umdenken" - "Zum nächsten Heimspiel gegen Freiburg kommen jetzt 35000 Fans, alle sind froh, dass Wildmoser weg ist."

Dann sagt Reiser noch, dass das Stadionprojekt in Fröttmaning für die Löwen wohl beendet sei und schlägt vor, ins alte Grünwalder Stadion zurückzuziehen. Er sagt, dass er schon mal solche Pläne vorgelegt habe, zusammen mit dem ehemaligen Löwenprofi Manfred Schwabl. Damals habe man ihn verjagt.

Nun ist Rudi Reiser wieder zur Stelle. Wildmosers Gegner formieren sich schon für eine neue Zeitrechnung beim TSV1860 München.

© SZ vom 10.3.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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