Champions League:Kahn heilt die Frostbeulen der Götter

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Beim 1:1 gegen Real Madrid spielt der FC Bayern groß auf, scheitert am Ende aber an einem Fehlgriff seines Torhüters. Von Thomas Kistner

Götter gelten gemeinhin als unsichtbar. Roberto Carlos aber war immer noch in Fleisch und Blut präsent in jener 83. Spielminute, als er sich den Ball zum Freistoß aus großer Torentfernung zurecht legte - dabei hätte er längst in der Kabine verschwunden sein müssen nach einem Faustschlag gegen Bayern-Spieler Demichelis.

Dieses Bild wird ihn verfolgen: Oliver Kahn beim 1:1 nach Roberto Carlos' Freistoß. (Foto: Foto: ddp)

Referee Hauge (Norwegen) jedoch hatte die Tätlichkeit übersehen, Roberto Carlos lief an - und Oliver Kahn ließ den harmlosen Schuss zum 1:1 (0:0)-Endstand ins Tor kullern. Es war das traurige Ende einer Münchner Fußball-Galanacht, in der 59.000 Zuschauer einen entfesselten FC Bayern erlebten, der Real Madrids Helden um Zidane, Beckham und Ronaldo phasenweise schwindlig spielte, am Ende aber die von Roy Makaay erzwungene Führung noch einbüßte. Mit einer Wiederholung des glanzvollen Auftritts in zwei Wochen in Madrid ist kaum zu rechnen. Den königlichen Glücksrittern reicht im Rückspiel bereits ein 0:0 zum Vorstoß ins Viertelfinale der Champions League.

Bayern-Coach Ottmar Hitzfeld hatte sich zuletzt doch für die konservativere Variante entschlossen und anstelle von Salihamidzic den Argentinier Demichelis ins hintere Mittelfeld beordert. Gegen ein Team, das alle nur die Galaktischen nennen, weiß man ja nie. Wiewohl es bis zu dem Zeitpunkt eigentlich die Bayern waren, die den Madrilenen als Unerreichbare erscheinen mussten: In den sieben Europacup-Heimspielen bis dahin hatten die Münchner stets obsiegt, bei 19:7 Toren. Alles graue Geschichte?

Ernorm beflügelt

20.45 Uhr, Temperatur unter dem Gefrierpunkt. Beckhams Frisur sitzt. So fest, wie zwei Minuten später ums Haar der Querschläger von Roberto Carlos im eigenen Tor - der folgende Münchner Eckball brachte nichts ein. Vom ersten gegnerischen Anrennen unbeeindruckt, spielten Zidane und Co. erst mal mit Ball und Bayern, die wiederum bemüht waren, nicht die Kontrolle über das Geschehen zu verlieren.

Aufreizend wirkte das, doch brauchten die Münchner nur zehn Minuten, um diese Kleinkunst als Akt der Selbstberauschung zu durchschauen: Stilfragen galt es hier nicht zu klären, es zählten allein Tore - und die lassen sich am besten über druckvolle Angriffe erzwingen. Also prüfte Makaay (13.) Torwart Casillas, Pizarro (15.) drosch den Ball aus 13 Metern übers Real-Tor, und die Galaktischen zogen sich zurück, schmollend. Und zunehmend irritiert.

Was die elf Weltlichen enorm beflügelte. Ende der Heldenverehrung, die Bayern zogen ein Powerspiel auf, wie es an diesem Ort noch in der gesamten Saison nicht zu besichtigen war, Casillas surrte in seinem Kasten hin und her wie ein Weberschiffchen. Knapp hinter der Mittellinie schritten die Bayern entschlossen ein, Ballack sah Gelb wegen überzogenen Zweikampf-Engagements gegen Beckham (26.). Bald hing dessen Zopf in Fransen, Kollege Zidane brachte gerade mal eine sehenswerte Pirouette zuwege - die Partie nach einer halben Stunde als ausgewogen zu bezeichnen hieße, den Königlichen schamlos zu huldigen.

Wie ordinäres Fußvolk

Wie festgefroren ließen Reals Helden den Münchner Ansturm über sich ergehen, als hätten sie derlei Widerstand noch nie erlebt. Womöglich war es auch so, nach ungefähr 35 Minuten beschränkten sich die Göttergleichen endgültig darauf, ein Bollwerk gegen die Münchner Flanken- und Eckbälle zu formieren sowie das Spielgerät zu behandeln, wie es sonst nur das ordinäre Fußvolk tut - weg damit, per Befreiungsschlag irgendwohin ins entvölkerte Gelände. Casillas (39.) parierte einen Gewaltschuss von Hargreaves, und fast 45 Minuten waren gespielt, als Kahn von Ronaldo erstmals zum Bodeneinsatz gezwungen wurde.

Mit angespannten Mienen schlichen die Galaktischen zum Pausentee, Zeit wurde es, die Rede auf die Bestia Negra zu bringen. Die Schwarze Bestie - so werden die Bayern ja in Madrid genannt, ob ihrer Erfolge in vergangenen Jahren.

Die Bestie kehrte zurück mit Salihamidzic für Lizarazu (Muskelfaserriss), und sie versuchte sogleich, der Partie die alte Dramaturgie aufzuzwingen. Bayern stürmte, Zidane sah Gelb nach einem Foul an Zé Roberto (49.). Beckhams angeschnittener Kunstschuss (52.) verschaffte den Münchnern eine Schrecksekunde, doch Makaay antwortete umgehend: Aus acht Metern köpfte er Zé Robertos Flanke unbedrängt neben das Tor (56.). Dorthin zielte auch Pizarro gleich darauf.

Taumelnde Statisten

Allmählich zeigten die Götter Nerven: Roberto Carlos' Faustschlag gegen Demichelis, eine rüde Tätlichkeit, blieb ungeahndet, für das vorherige Foulspiel aber sah der Bayern-Akteur Gelb (59.).

Doch die Bestie lebte, gierig fraß sie sich Richtung Real-Tor, vor dem heilloses Durcheinander herrschte, phasenweise verloren die Gäste jede Ordnung. Das hier war nicht mehr ihre Galaxie - als wär's ein Handballspiel, umkreisten die Bayern ihren Strafraum.

Beckham, Figo, Zidane? Wie Statisten taumelten sie durch diese Partie, die für sie endgültig albtraumhafte Züge annahm, als nach 75 Minuten Pizarro Gegenspieler Bravo austanzte und präzise nach innen flankte, wo Makaay den Ball - erneut unbedrängt - in Reals Allerheiligstem versenkte.

Hitzfeld brachte Santa Cruz für Pizarro. Dann aber, mitleidlos hinein ins Münchner Wintermärchen, schenkte Oliver Kahn den Königlichen den Ausgleich. Einen 35-m-Freistoß von Roberto Carlos, der zum Freistößchen verkümmert war, ließ der Bayern-Keeper unter dem Körper ins Netz rutschen (83.). Und schrieb so sein persönliches Drama fort, das ihn als Held zahlloser Schlachten sieht, doch auch als tragische Figur in zentralen Momenten der Fußballhistorie, etwa beim ersten Gegentor im WM-Finale 2002 von Yokohama.

Beim gestrigen Blackout gesellte sich allerdings eine brisante Frage hinzu: War der mit Dutzenden Spritzen aufgepeppte Schlussmann wirklich im Vollbesitz seiner körperlichen Kräfte?

Tapfer rackerten die Kollegen bis zum Schluss, Kahn kämpfte mit den Tränen und ließ zuletzt die Handschuhe im Torraum liegen. Die Bestie dieser Nacht war das Schicksal.

Statistik:

Bayern München: Kahn - Sagnol, Kuffour, R. Kovac, Lizarazu (46. Salihamidzic) - Hargreaves, Demichelis (90. Jeremies), Zé Roberto - Ballack - Pizarro (76. Santa Cruz), Makaay Real

Madrid: Casillas - Salgado, Helguera, Raúl Bravo, Roberto Carlos - Beckham, Guti - Figo, Raúl, Zidane - Ronaldo (90. Solari)

Schiedsrichter: Hauge (Norwegen) - Zuschauer 59.000 (ausverkauft)

Tore: 1:0 Makaay (75.), 1:1 Roberto Carlos (83.) Gelbe Karten: Ballack, Demichelis / Zidane, Ronaldo, Figo

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