Bundesliga-Spitzenspiel:Nach der Häme

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Harald Reinkind (2.v.r.) warf sechs Tore gegen seinen ehemaligen Verein und verhalf dem THW Kiel zu einem beachtlichen Auswärtstriumph. (Foto: Uwe Anspach/dpa)

Der THW Kiel gewinnt gegen die Rhein-Neckar Löwen mit 27:24. Und es ist nicht nur das Ergebnis, das zeigt: Der Rekordmeister scheint für die Rückkehr an die Spitze bereit zu sein.

Von Michael Wilkening, Mannheim

Im Profisport ist keine Zeit für Wunschdenken und es gibt natürlich keine Möglichkeit, Entscheidungen im Nachhinein zu revidieren. Vermutlich sehnte sich die Geschäftsführerin Jennifer Kettemann gestern Abend aber trotzdem danach, den Entschluss zurücknehmen zu können, den Handballer Harald Reinkind abzugeben. Der Norweger spielte drei Jahre lang für die Rhein-Neckar Löwen, wobei er bevorzugt auf der Ersatzbank saß und zusah, wie der Klub zur Nummer eins in Deutschland aufstieg. Im Sommer wechselte der Rückraumspieler trotz eines noch laufenden Vertrages zum THW Kiel. und weil im Sport immer Platz für kitschige Geschichten ist, warf Reinkind sechs Tore gegen seinen ehemaligen Verein - und verhalf seinem neuen zu einem beachtlichen Auswärtstriumph. Rekordmeister THW Kiel meldete mit dem 27:24-Sieg in Mannheim seine Anwartschaft darauf an, nach drei Jahren Pause mal wieder ernsthaft um die Meisterschaft mitzukämpfen.

Es ist gar nicht entscheidend, ob Kettemann als Geschäftsführerin der Löwen eine Chance hatte, Reinkind an einem Wechsel zu hindern, oder ob das Arbeitspapier eine Ausstiegsmöglichkeit für Reinkind vorsah. Mit Sicherheit wünschte sich Kettemann den Linkshänder aber ganz heimlich in die eigene Mannschaft zurück. Reinkind schaffte nämlich genau das, was den Löwen-Akteuren nicht gelang: Mit Treffern aus dem Rückraum sorgte er für Unruhe beim Gegner und damit nebenbei für mehr Freiraum seiner Nebenleute. Den Löwen gelang es hingegen nicht, Torgefahr aus der zweiten Reihe auszustrahlen, um die Abwehr des Gegners zu zwingen, offensiver zu agieren.

Weil Harald Reinkind ein ziemlich netter Kerl ist, ertrug er drei Jahre lang, dass andere bei den Löwen Rampenlicht standen. Und weil er darüber hinaus wohlerzogen ist, kam es ihm nicht in den Sinn, den Moment des Triumphes für Eigenwerbung zu nutzen oder Schadenfreude zu verspüren. Er habe "vielleicht einen Vorteil" gehabt, weil er die Gegenspieler diesmal eben besser als alle anderen kannte. Und, naja, ein bisschen "Extra-Motivation" habe er doch auch verspürt.

Besonders motiviert war aber nicht nur der Norweger, sondern alle, die in den weißen Leibchen auf dem Feld standen. In den vergangenen Jahren mussten die Kieler viel Häme ertragen. Häme der Erleichterung, die nur über dem ausgeschüttet wird, der nach jahrelanger Dominanz vom Thron gestoßen wird. Der Rekordmeister hatte seinen Schrecken verloren, seit 2015 wurde der größte Klub in Handball-Deutschland nicht mehr Meister, nur der Pokalsieg 2017 durchbrach kurzzeitig das Tal des Misserfolgs.

Nationalspieler Patrick Wiencek spricht von einem "Big Point"

Der Sieg in Mannheim - und viel mehr noch die Selbstverständlichkeit, mit der er errungen wurde - sendete das klare Signal aus, dass der THW Kiel in der Lage zur Rückkehr an die Spitze ist. Zwei Spiele hat der THW in der laufenden Saison bereits verloren, doch das sorgt nicht für Unruhe. "In Flensburg und Magdeburg werden auch andere Spitzenmannschaften verlieren", sagte Nationalspieler Patrick Wiencek mit Nachdruck. Der Sieg in Mannheim hingegen werde nicht allen gelingen, sei also ein Bonus-Erfolg. "Einen Big Point", nannte das der THW-Kreisläufer.

Nach einer ausgeglichenen und umkämpften ersten Halbzeit entschieden die Kieler unmittelbar nach der Pause innerhalb von nicht einmal fünf Minuten das Spitzenspiel, als sie mit fünf Treffern hintereinander aus einem 11:12 eine 16:12-Führung machten. Obwohl den Löwen anschließend noch 25 Minuten Zeit blieben und der amtierende Pokalsieger zwischenzeitlich auch bis auf ein Tor herankam, war die Last des Rückstands zu groß. "Kiel war heute einen kleinen Schritt besser", sagte Löwen-Coach Nikolaj Jacobsen anerkennend. Im Gegensatz zu den vergangenen Jahren behielten die Spieler des THW in brenzligen Situationen die Ruhe. Kopflos agierte hingegen der Gastgeber in einer kurzen Phase nach der Pause, was genügte, um das TV-Topspiel, das live in der ARD gezeigt wurde, verdient zu verlieren.

Für Patrick Groetzki war nicht die Niederlage an sich ein alarmierendes Zeichen, sondern die Kräfteverhältnisse auf dem Platz. "Der THW war spielerisch besser und kam deshalb einfacher zu guten Torchancen", sagte der Rechtsaußen der Nationalmannschaft. Nicht immer hatten die Löwen in den vergangenen Jahren gegen die Kieler gewonnen, aber doch stets den Eindruck hinterlassen, über das bessere Spielkonzept zu verfügen. Groetzki war irritiert, dass diesmal die Kieler den Ball schneller und klüger zirkulieren ließen. Die Stärke der Kieler könnte darauf hindeuten, dass sich die Kräfteverhältnisse in der Bundesliga womöglich wieder verschieben - und das beunruhigte Groetzki. Harald Reinkind beunruhigte das eher nicht.

© SZ vom 14.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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