Bundesliga-Relegation:Sich selbst k.o. gehauen

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Nach dem 2:2 gegen Union Berlin muss der VfB Stuttgart mehr denn je den Abstieg fürchten. Das Relegations-Hinspiel zeigt, dass die VfB-Elf zwar Spieler mit Zukunft und Vergangenheit hat - aber kaum Akteure mit Gegenwart.

Von Christof Kneer, Stuttgart

Die Tür, die den Kabinentrakt des VfB Stuttgart von der Interviewzone trennt, hat schon viel erlebt. So viele VfB-Manager sind schon mit so vielen unterschiedlichen Gesichtern durch sie hindurch marschiert, abgesehen von Fredi Bobic vielleicht, der bauartbedingt meistens dasselbe listige Gesicht gemacht hat. Es ist lange her, dass Horst Heldt witzelnd vor die Journalisten getreten ist, zehn Jahre oder so, ihm folgten Bobic, Robin Dutt mit seinem Schal und der riesengroße Jan Schindelmeiser. Hat man einen vergessen? Zuletzt trat immer Michael Reschke durch diese Tür und versuchte zu verteidigen, was meistens nicht zu verteidigen war. Es ging meistens bis immer um die von ihm verantwortete Mannschaft, die wieder mal verloren hatte und der es trotzdem nicht gelang, das Stadion leer zu spielen. Der VfB hat immer noch einen Zuschauerschnitt von weit mehr als 50 000 und liegt damit auf dem vierten Platz der Liga. Also: der ersten Liga natürlich.

Am späten Donnerstagabend lief Sven Mislintat durch diese Tür, den Kopf trug er vorsichtshalber tief gesenkt, er kam also gar nicht erst in die Versuchung, in erwartungsvolle Reportergesichter zu blicken. Er lief an den Reportern vorbei, nur schnell raus aus diesem Stadion, in das er demnächst aber noch häufig kommen muss. Mislintat, 46, ist der Nächste in der Türschlange, seit 1. Mai ist er Sportdirektor beim VfB Stuttgart. In der Branche führt Mislintat den schönen Kosenamen "Diamantenauge", weil er im Ruf steht, Talente schon funkeln zu sehen, während die Konkurrenz noch im Dunklen tappt.

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(Foto: Matthias Koch/imago)

Eine Etage höher als alle anderen: Unions Marvin Friedrich drückt den Ball zum wichtigen 2:2 ins Tor.

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(Foto: AFP)

Ron-Robert Zieler war häufig gefordert gegen Berlin, besonders gegen Mittelstürmer Sebastian Andersson (hinten).

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(Foto: REUTERS)

Mario Gomez ließ die Stuttgarter nach seinem Führungstor kurz jubeln, doch der Ausgleich dämpfte die Freude wieder.

In Stuttgart haben die Leute im Moment aber andere Themen, als sich auf das Diamantenauge zu freuen. Nach dem 2:2 (1:1) im Relegations-Hinspiel gegen Union Berlin fürchtet die Stadt samt ihrem riesigem Umland, dass die von Michael Reschke (Kosenamen: Perlentaucher) verantwortete Elf mit ihrem prächtigen Zuschauerschnitt bald die zweite Liga veredelt.

"Es ist wichtig für uns zu verstehen, dass erst Halbzeit ist", hörte sich Stuttgarts Interimstrainer Nico Willig später ständig sagen, es gebe "noch ein Rückspiel". Klar, die Stimmung sei jetzt nicht gerade ausgelassen, aber dem Trainerkollegen Urs Fischer von Union Berlin sei es ja auch gelungen, seine Elf nach dem verpassten Direktaufstieg in vier Tagen wiederaufzubauen - "und ich", sagte Willig tapfer, "habe jetzt auch vier Tage". Der VfB muss das Rückspiel in Berlin gewinnen, um Erstligist zu bleiben - oder ein höheres Unentschieden als ein 2:2 erzielen.

Willig, 38, hat das gut gemacht nach diesem Spiel, besser als seine Spieler. Er hat jene Mischung aus Analyse, Selbstkritik und Kampfansage hinbekommen, die seine Elf fürs Rückspiel am Montag dringend braucht. "Wir fühlen uns jetzt wie ein Boxer, der eine abgekriegt hat", sagte Willig, "jetzt müssen wir uns schütteln und die nächsten Runden gewinnen." Das Spezielle an diesem Boxer ist halt nur, dass er gar keinen superstarken Gegner gebraucht hat, um eine abzukriegen. Die Stuttgarter - eine beachtliche artistische Übung - haben sich selber aufs Maul gehauen.

Es war ein ziemlich kurioses Spiel vor selbstverständlich ausverkauftem Haus. Obwohl die Stuttgarter ihrer imposant verpatzten Saison mit einem weiteren verpatzten Spiel treu blieben, waren sie trotzdem in einer anderen Gewichtsklasse tätig als dieser Gegner, der sie nun möglicherweise eine Liga tiefer schicken wird. Ja, Union Berlin ist eine gewissenhafte Mannschaft und von ihrem Schweizer Trainer Fischer präzise auf Kompaktheit programmiert, aber manchmal ist "Kompaktheit" auch nur eine andere Formulierung für "offensiv ein bisschen bieder". Union hat keinen Stürmer wie den Stuttgarter Anastasios Donis, der so schnell ist, dass ihn keine der handelsüblichen Radarfallen erwischt. Union hat auch keine Verteidiger wie Benjamin Pavard, Ozan Kabak und Marc Oliver Kempf, und es ist zumindest nicht bekannt, dass sie einen Nationalspieler wie Mario Gomez auf ihrer Bank sitzen haben. Das war an diesem Abend aber wunderbar wurschtegal: Es war ein Abend, an dem die Leute ihrem VfB gerne ein bisschen mehr Biederkeit gewünscht hätten.

Das Problem am VfB ist, dass man sich nie auf ihn verlassen kann - und dass man sich von den Supernamen auf den Trikots leicht täuschen lässt. Das eine hängt mit dem anderen zusammen: Die Stuttgarter haben Spieler, die eine gute bis sehr gute Zukunft vor sich haben (Donis, Pavard, Kabak, Kempf, Gonzalez), und sie haben Spieler, die eine gute bis sehr gute Vergangenheit hinter sich haben (Gomez, Gentner, Didavi, Castro, Aogo, Badstuber). Spieler mit Gegenwart haben sie kaum. Unpraktischerweise hat der VfB nun im ersten der beiden entscheidenden Saisonspiele seine spektakuläre Disbalance vorgeführt. Der VfB hatte gute Phasen, zweimal haben die Herzens-Stuttgarter Christian Gentner (42.) und Mario Gomez (51.) ihren VfB in Führung geschossen; Gentner nach Vorarbeit des rasenden Donis und Gomez mit Willen und Glück nach einem Sololauf. Die Gegentore zeigten aber jenen instabilen VfB, dem eine Autorität im besten Alter fehlt, und Abdullahis 1:1 taugte als kleine Geschichtsstunde. Dieses Tor fasste den VfB der letzten Jahre bündig zusammen: Immer wenn es der Elf (vermeintlich) gut geht, verfällt sie in grotesken Leichtsinn. Nach dem 1:0 kam Union sofort zum Ausgleich, ein langer Schlag aus dem Anstoßkreis, ein verlorenes Kopfballduell von Kempf, ein ungelenker Zweikampf von Insua: Es dauerte nur 87 Sekunden, bis die Welle schon wieder gebrochen war. Und genauso billig gab der VfB die zweite Führung her: Nach einer Ecke übersprang Union-Verteidiger Friedrich die mit einem herrlichen Powernap beschäftigten VfB-Verteidiger Kabak und Kempf und erzielte per Kopf den Ausgleich.

Die "ganze Stimmung jetzt" gefalle ihm nicht, sagte Gomez später, er meinte die Pfiffe einiger Fans und die hängenden Köpfe einiger Kollegen. Weil das Diamantenauge bis Montag aber keine neuen Spieler holen darf, werden die aktuellen Spieler sich im Rückspiel an der Rettung versuchen müssen - entweder die Spieler, die eine Zukunft vor sich oder die, die eine Vergangenheit hinter sich haben. Am besten wäre übrigens, sie würden zusammenspielen.

© SZ vom 25.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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