Bremens 1:1 in Frankfurt:Blaumänner als Spaßverderber

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Kontertor fürs Lehrbuch: Der Bremer Joshua Sargent (in Weiß) trifft gegen Frankfurts Torwart Kevin Trapp zur 1:0-Führung. (Foto: imago images/Hartenfelser)

Mit neuer Defensivpragmatik punktet Werder auch in Frankfurt.

Von frank hellmann, Frankfurt

Eine der auffälligsten Veränderungen beim SV Werder zeigt sich in dieser Saison an Florian Kohfeldt. Der Bremer Chefcoach begleitet Bundesligaspiele neuerdings in Zivil statt in Trainingskluft. Beim 1:1 bei Eintracht Frankfurt fiel der offene graue Reißverschlusspullover auf, der Kohfeldt, 38, eine gewisse Lässigkeit vermittelte. Mag sein Kleidungsstil mit smart casual treffend beschrieben sein, so ist der Bremer Spielstil nun allerdings eher grob-rustikal. Die Grün-Weißen schlüpften erneut für 90 Minuten plus Nachspielzeit in einen imaginären Blaumann und verrichteten Schwerstarbeit wie früher die Arbeiter in den großen Bremer Werften.

Das sah auch in Frankfurt selten attraktiv aus, aber wie schon gegen Arminia Bielefeld (1:0), beim SC Freiburg (1:1) und gegen Hoffenheim (1:1) holte Werder - gemessen an minimierten Ballbesitzzeiten, Passquoten und Torchancen - das Maximale heraus. Von früheren Sturm-und-Drang-Zeiten sind die Kicker von der Weser gerade so weit entfernt wie deutsche Großstädte von akzeptablen Corona-Inzidenzwerten. Gute Unterhaltung in der Pandemie fürs TV-Publikum geht anders. Einerseits.

Andererseits hat Werder, in der Vorsaison monatelang in höchster Abstiegsgefahr, nun bereits neun Punkte gehamstert. Am Freitag im Heimspiel gegen Köln besteht zudem eine gute Chance, vor der Länderspielpause nachzulegen. Es gebe "keinen Ansatz zur Zufriedenheit", mahnte Kohfeldt dennoch, schön wäre es, nach drei 1:1 wieder mal zu gewinnen, betonte er. Am 27. Juni fegte Werder die Kölner 6:1 vom Platz, der Kantersieg am letzten Spieltag war überlebensnotwendig, um wenigstens die Relegation zu erreichen. Es war eines der ganz wenigen Spiele, in denen Kohfeldts ursprüngliche Handschrift zu erkennen war: dominanter Fußball, offensiv geprägt. Daran versucht er sich im Herbst 2020 gar nicht mehr.

Kohfeldt fällt es jedoch nicht schwer, einen neuen Pragmatismus zu predigen: "Es wäre schlecht von mir, wenn ich etwas indoktriniere, was nicht passt. Wenn wir uns etwas tiefer stellen, dann ist das nicht gegen meine Philosophie - das ist clever." Es ist offenbar seine wichtigste Lehre aus der gruseligen Vorsaison: seiner Elf nicht etwas abzuverlangen, was sie nicht beherrscht. Daher sei die Abkehr vom lange propagierten Ballbesitzfußball fast alternativlos: "Keiner in ganz Deutschland muss glauben, dass sich meine Spielphilosophie auch nur ein Mμ geändert hat. Aber zu den Aufgaben eines Trainers gehört es, realistisch einzuschätzen, was eine Mannschaft momentan in der Lage ist zu leisten. Wir müssen dieses Jahr den Weg andersherum gehen", erklärt Kohfeldt.

Die fast auf den Tag genau vor drei Jahren bei seinem Debüt, ebenfalls in Frankfurt, aufgeführten Prinzipien habe er deswegen nicht verraten. Irgendwann wolle er dann schon wieder sagen: "Wir gehen vorne drauf, haben 70, 80 Prozent Ballbesitz und spielen uns Torchance um Torchance heraus." Derzeit aber erfolgt vorrangig ein Investment in die Defensive: Werder verteidigte erneut mit einer Fünferkette, in der Kapitän Niklas Moisander sich mitunter wie ein Libero fallen ließ; davor verdichtete eine Doppelsechs mit Christian Groß und Maximilian Eggestein die Räume.

"Rabauken-Truppe"? Kohfeldt wertet das als Kompliment

Nachdem Josh Sargent einen Konter mustergültig vollendet hatte (51.), glich André Silva (65.) für die behäbige Eintracht nur deshalb aus, weil sich Bremens Eigengewächs Jean-Manuel Mbom einen törichten Ballverlust leistete. Ihm werde man künftig bessere Lösungen für solche Situationen aufzeigen, versicherte Kohfeldt, der sich derzeit in erster Linie als Aufbauhelfer sieht, der ästhetische Ansprüche zurückstellt: "Das Spiel mit dem Ball, die Automatismen müssen wir uns sehr hart neu erarbeiten." Irgendwann in ferner Zukunft.

Kohfeldt hat Gefallen an der Rolle eines ganz und gar nicht dogmatischen Übungsleiters gefunden. Nur muss er jetzt damit leben, dass Werder als großer Spaßverderber der Liga gilt. Passt da gar die von Thomas Müller (für Atlético Madrid) verbreitete Bezeichnung der "Rabauken-Truppe", weil ja auch die Bremer Trainerbank mitsamt Spielern und Staff bei Geisterspielen mächtig Alarm macht? Kohfeldt überlegte kurz bei dieser Frage. Solchen Vergleichen stimme er zwar nicht zu, er nehme sie aber als Kompliment gerne an, betonte er: "Letzte Saison wurde uns immer vorgeworfen, wir seien zu lieb, zu wenig körperlich. Wir sind auch jetzt weder unfair noch übertrieben hart. Wir hauen einfach alles rein, was wir haben. Und wenn alle merken, es ist unangenehm, gegen Werder zu spielen, dann ist das super."

© SZ vom 02.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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