Boxen:Die Tränen des Falken

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Der reisende Show-Kämpfer Bruce Özbek war immer da, wenn das Boxgeschäft einen Verlierer brauchte - bis er an Demenz erkrankte. Nun bestreitet er seinen letzten Kampf.

Iris Hellmuth

Auch heute warten sie wieder auf ihn in der "Ritze", der legendären Boxer-Kneipe auf der Hamburger Reeperbahn, in der es immer nach Schweiß riecht und Bier, egal um welche Zeit. Um fünf Uhr wollte er da sein, nun ist es bald sechs, "vielleicht hat er es ja einfach vergessen", sagt einer, und niemand lacht. Ein Handy klingelt. Bruce sei auf dem Weg, heißt es.

Bruce Özbek, hier zu sehen bei einem Kampf 2001, erkrankte an Demenz und muss seine Box-Karriere beenden. (Foto: Foto: Imago)

Einen Kaffee wird er sich bestellen, mit Milch und Zucker, "ich trinke ja keinen Alkohol mehr", sagt Bruce Özbek, als er angekommen ist, ein Mann mit breiten Schultern und grauen Haaren im einfachen Anzug. Müde sieht er aus. Das machen die Medikamente. Er muss sie einnehmen, um ein Leben zu führen, das er leben kann, so wie er ist. Eines, in dem niemand sagen soll, er sei ein Verlierer.

Denn zu verlieren hat Bruce Özbek, der Blitz aus Stade, schon lange nichts mehr. Über hundert Kämpfe hat er in seinem Leben gekämpft und die wenigsten davon gewonnen. Dafür war er da. Jederzeit konnte man ihn anrufen, Bruce Özbek war immer verfügbar. "Wenn kurzfristig ein Gegner ausfiel, konnte man sicher sein, dass Bruce als Ersatz bereit steht", sagt Klaus-Peter Kohl vom Profiboxstall Universum.

Unzählige Male betrogen

Auch wenn der Gegner zu dünne Handschuhe trug und sich dessen Knochen Runde um Runde in Özbeks Gesicht bohrten, als er selbst 85 Kilogramm wog und sein Gegner 120. Unzählige Male wurde er um den Sieg betrogen. Er lieferte trotzdem einen guten Fight. "Nie habe ich aufgegeben, nie war ich feige", sagt Özbek, der Journeyman.

Journeyman - so nennen sie einen wie ihn im Boxgeschäft. Dreißig Jahre lang ist er von Kampf zu Kampf gereist, sein Blick schweift über die Galerie der vielen Champions in einer Ecke der "Ritze", Eckhard Dagge und Jürgen Blin hängen hier, Axel Schulz und der Tiger, und während er von ihnen erzählt, ist es manchmal, als würden sie mit am Tisch sitzen.

Schluss mit Bruce, dem Journeyman

"Als Weltmeister abzutreten, das war immer mein Traum", sagt Özbek, sein Auge zuckt, eine Narbe zieht sich bogenförmig über die linke Braue. 1988 wurde Özbek in Ankara Weltmeister im Kickboxen, einer Sportart, mit der sich noch immer wenig Geld verdienen lässt. Er sattelte auf Boxen um, obwohl er wusste, dass die Beine seine größte Stärke waren.

Jetzt ist Özbek 44 Jahre alt, und am Samstag soll Schluss sein mit Bruce, dem Journeyman. Dann findet in Buxtehude seine Abschiedsgala statt, das Ende einer Karriere, die nie Glamour hatte, sondern immer nur Kampf war, und doch auch Show. Unvergessen sein Kampf 2002 im Münchner Cirkus Krone, als er seinen Gegner aus dem Ring boxte und seinen Sieg anschließend mit einem Spagat in der Luft feierte. Weil er mal durfte.

Die Zeitungen druckten sein Foto auf der ersten Seite. So hätte es immer sein sollen. Doch ob das Leben so für ihn vorgesehen war oder sich in jedem Moment neu entschied, weiß heute niemand mehr so genau. Er hätte ja gehen können, nach jedem verlorenen Kampf. Er tat es nicht. Aber ist das heute noch wichtig?

An vieles wird sich Bruce Özbek bald nicht mehr erinnern können. Im Sommer vergangenen Jahres hatte er so starke Gleichgewichtsstörungen, dass er in der Innenstadt seiner Heimatstadt Stade zusammenbrach."Ich habe die Gullydeckel gezählt, um nach Hause zu finden", sagt er. Er fuhr nach Berlin, und die Diagnose war eindeutig, sie bestand aus einem Wort: Demenz.

Sollte er noch einen einzigen Profikampf machen, könnte er sterben. Wenn er auf seiner Gala gegen andere Kämpfer antritt, dann sind es seine Freunde. Sie wissen um seinen Zustand, sie werden nicht zuschlagen. Sie wollen dem Boxer Özbek danken, der seinen Körper gegeben hat, damit andere unterhalten wurden. Bis der Vorhang fällt.

Tausend Karten hat er schon verkauft für seine letzte Gala, darauf ist er stolz, er lacht, seine Fäuste liegen vor ihm auf dem Tisch wie zwei Klumpen Ton. Einzelne Knöchel zeichnen sich kaum noch ab, sie sind verknorpelt und verwachsen. "Ich habe kein Gefühl mehr darin. Kommt vom vielen Schlagen, alles kaputt", sagt er, und haut die Hand auf die Tischplatte.

Aufgewachsen im wilden Kurdistan

Seine Nase lässt sich verformen wie Kinderknete. Er hat sich das Nasenbein entfernen lassen, seitdem kann er besser atmen. Deutschland hat ihn als Frührentner anerkannt, dafür ist Özbek sehr dankbar. Der reisende Mann ist sesshaft geworden. "Im Ring war ich immer auf Jagd", sagt er und breitet die Fäuste aus, so dass seine Arme wirken wie mächtige Schwingen, "die Beute habe ich nach Hause gebracht. Ich bin doch aufgewachsen im wilden Kurdistan, wo die Falken noch fliegen."

Wild war er schon immer, und fast wäre der Sohn eines Gastarbeiters in die Halbwelt abgerutscht, vier Monate saß er wegen verschiedener Gewaltdelikte im Jugendknast. Sein Idol hieß Bruce Lee. Doch als er zu Hause in Manier seines Vorbilds die Kerzen aus dem Leuchter kickte, brach ihm der Vater mit seinen Schlägen den Kiefer. Erst dann wurde aus Bahattin, dem wilden Falken, Bruce Özbek.

Seit zehn Jahren hat er nun selbst Kinder. Sie heißen Bruce Lee und Muhammed Ali, sind zehn und zwei Jahre alt, und natürlich werden sie am Ring sitzen bei seiner Abschiedsgala, auch wenn sie ihn dann weinen sehen. Seine Frau war schließlich auch dabei, als ein Arzt in Berlin die Demenz feststellte und Özbek die gesamte Heimfahrt geweint hat. Jeden Tag achtet sie nun darauf, dass er seine Tabletten nimmt. Ohne sie würde er nicht einmal geradeaus laufen können.

Doch heute ist ein guter Tag, es gibt kaum ein Wort, das er nicht trifft, nur die Enden ducken sich manchmal weg. Dann beginnt er Sätze, von denen er nicht weiß, wo sie mit ihm hinwollen. Gäbe es einen Ringrichter in diesem Moment, er würde den Kampf abbrechen, so angeknockt sieht Özbek aus. Doch die Gabe der Rede rettet darüber hinweg.

Er war schon immer ein Showman und großer Erzähler, der doch nie beschönigen musste, was er ist. "Hey Mann, dafür sind wir doch Boxer, dass wir ehrlich sind", sagt er und sein Blick ist ganz klar für einen Augenblick. So klar, dass man sich fragt, warum ihm der Abschied so schwer fällt. Er weiß nicht, wie das gehen soll, ein Leben ohne sein Boxen. Er will ja damit aufhören, nur das Boxen nicht mit ihm.

Der Kaffee ist ausgetrunken, Bruce Özbek geht hinab in den Keller der "Ritze", ein altes Boxgym, das man in zwanzig Schritten durchmessen kann. Noch immer fährt er jeden Tag von Stade nach Hamburg, um hier zu trainieren, es ist das Einzige, was seinen Tagen Struktur gibt.

Der größte Kampf wartet noch

In der Mitte des Gyms steht ein Ring, es riecht nach Schweiß und Leder und Duschgel. Von der Decke hängen Sandsäcke, Sportler mit jungen Körpern springen Seil oder hämmern auf Sandsäcke ein, aus den Lautsprechern dröhnt AC/DC: "TNT, I'm Dynamite, TNT, I'll win the fight." Özbek hat sich umgezogen, im Vorbeigehen zeigt er auf ein Poster mit seinem Gesicht darauf. "Das war mal der Blitz", sagt er.

Er spricht von sich in der Vergangenheit, und doch wirkt sein Körper nicht alt, im Ring bewegt sich Özbek ganz weich. Er schlägt ein paar Kombinationen in die Luft, dann gleiten seine Beine in den Spagat, ansatzlos, einfach so. Er legt seinen Kopf vor sich auf die Matte, ein fest umrissener Körper, wie von geraden Linien gezogen. Er sieht glücklich aus. Und ruhig, ganz bei sich selbst ist. Da ist kein Gegner, der ihn stört.

Am Samstagabend steigt er zum letzten Mal in den Ring. Danach wird sein Kampf ein anderer sein. Vielleicht der größte seines Lebens.

© SZ vom 14.11.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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