Beckenbauer:Das nächste Spiel ist immer das schönste

Lesezeit: 6 min

Mehr Glück geht nicht: Ein Lobgesang zum 60. Geburtstag des Fußball- und Lebenskünstlers Franz Beckenbauer.

Benjamin Henrichs

Das bisher letzte große Solo Franz Beckenbauers, es ist erst wenige Tage her - und der Fußballmensch brauchte nicht einmal seine Füße dazu. Beckenbauer nämlich saß auf einem Podium in Berlin, bei einer Pressekonferenz zum Kunstprogramm der WM 2006, und sollte nun so etwas sprechen wie ein Grußwort. Er saß zwischen Otto Schily und André Heller, und Robert Wilson, der Theaterzauberer, war nur ein paar Stühle entfernt.

Franz Beckenbauer beim FC Bayern (1976) - jugendlicher Altmeister mit 18 Jahren. (Foto: Foto: dpa)

Wohl jeden hätte eine solche Nachbarschaft eingeschüchtert, Beckenbauer nicht, im Gegenteil. Er legte gleich lustig los und zeigte, was eine freie Rede ist. Zuerst erzählte er von einer kuriosen New Yorker Begegnung mit dem Maler Andy Warhol. Und dann lobte er die Künste und das große Kunstprogramm sehr.

Fragte dann aber jählings grollend, wo denn der Fußball bleibe, bei all der schönen Fußball-Kunst, und plötzlich schien aus dem Grußwort ein Gewitter, aus dem Lobgesang ein Wutanfall zu werden. Eine Kunstbeschimpfung womöglich. Aber natürlich ging wieder einmal alles gut, Beckenbauer brachte seinen rhetorischen Sololauf heiter zuende, ohne dass ein Amoklauf daraus wurde, und am Ende freuten sich alle, die Freunde des Fußballs und die Liebhaber der Kunst.

Alle Gedanken freilassen

So kann nur einer reden, Beckenbauer. Weil er seine Gedanken nicht ängstlich ordnet, sondern sie freilässt, alle auf einmal, im schönsten Durcheinander. Als würde jemand einen großen Vogelkäfig öffnen, und alle Vögel fliegen hinaus, ins Himmelblaue, Freie.

Es hätte schon schief gehen können mit dieser kleinen Berliner Rede, aber es ging natürlich alles gut, aus einem vermutlich einfachen Grund: Der Redner hatte keinerlei Angst, dass etwas schiefgehen könnte. Und wenn doch? Auch egal. Ihm nimmt niemand etwas übel. Das hat für das Leben des Franz Beckenbauer eine beinahe märchenhafte Konsequenz: Alle müssen sich verstellen, er darf so sein, wie er ist. Man freut sich über alle seine Tore. Und über seine Eigentore auch.

Jetzt läuft die Zeit rückwärts, und wir sind im Juni des Jahres 1964. Der FC Bayern möchte dorthin, wo die Lokalrivalen vom TSV 1860 schon sind, in die Erste Bundesliga. In der Aufstiegsrunde debütiert ein junger Spieler, 18 Jahre alt, er kommt aus München-Giesing und heißt Franz Beckenbauer.

Die Kenner kennen ihn natürlich schon, aus der Jugendmannschaft der Bayern, und einer von ihnen, Hans Schiefele, schreibt zum Beginn der Aufstiegsrunde in der SZ: "Der Jugendspieler Franz Beckenbauer, ein Allroundfußballer mit großem Ballgefühl, trägt die Nummer 11 auf dem nagelneuen weißen Trikot." Und nun folgt der wahrlich prophetische Satz: "Um Beckenbauer sollte man sich keine Sorgen machen."

Wer seinerzeit dabei war, bei der Aufstiegsrunde, bei Beckenbauers Debüt, hatte nach den Spielen dieses sonderbare, feierliche Gefühl. Auch wer den Löwen verfallen war, die damals ihre beste Zeit hatten (mit Torwart Radenkovic und Trainer Merkel, mit Küppers, Grosser, Brunnenmeier), auch wer folglich alles, was vom FC Bayern kam, hätte hassen müssen, war sogleich vom Spieler Beckenbauer bezaubert und gerührt.

Es hatte etwas Großes angefangen, und man war froh und stolz, dabei zu sein. Eine Geschichte hatte begonnen, von der man noch lange, lange würde erzählen können, zum Beispiel im September 2005.

Jugendlicher Altmeister

Dabei ist Beckenbauers Premiere alles andere gewesen als der klassische, stürmische Auftritt eines Wunderkinds. Kein genialer Anfänger, kein begnadeter Lehrling betrat da den Platz, sondern wahrhaftig ein jugendlicher Altmeister von 18 Jahren.

Nicht jünglingshafter Übereifer bestimmte sein Spiel, sondern eine rätselhafte Lässigkeit und Ruhe. Was viel später zu einer Lieblingsfloskel der verfeinerten Fußballberichterstattung wurde (dass ein Spieler "das Spiel lesen" muss), hat Beckenbauer vom ersten Moment an demonstriert: Er rannte, wenn er den Ball bekam, nicht begeistert und blindwütig los, sondern schaute erst einmal hellwach ins Weite, suchte den richtigen Mitspieler für den richtigen Pass.

Schon damals schien er keinerlei Angst zu haben, irgend etwas falsch machen zu können. Er sah noch aus wie ein Kind und regierte schon über das Spiel wie ein König. Und was das Erstaunlichste war: Alle (alle Zuschauer im Stadion und alle Mitspieler auf dem Platz) schienen diese Anmaßung sofort zu akzeptieren. Alle unterwarfen sich mit Freude: Da ist er, der Beste, so ist es eben, zu ändern ist daran nun nichts mehr.

Als Fußballer, so hat es der Spieler Pelé gesagt, sei Franz Beckenbauer eher ein Brasilianer als ein Europäer gewesen. Das ist wahrscheinlich das größte Kompliment, das ein brasilianischer Fußballer einem nichtbrasilianischen Fußballer machen kann. Aber stimmt es denn auch?

Der Deutsche ist kein Brasilianer

Es stimmt nicht, nicht ganz jedenfalls. In Abwandlung einer schon klassischen Beckenbauer-Weisheit ("die Schweden sind keine Holländer") muss man sagen: Der Deutsche ist kein Brasilianer. Nicht einmal der Spieler Beckenbauer, allen seinen artistischen Talenten zum Trotz.

Um das Rätsel zu verstehen, muss man jetzt kurz die beiden Hauptakteure des großen Schauspiels namens Fußball betrachten: den Fußballspieler und den Ball. Für den klassischen, gern so genannten deutschen Spieler (kampfkräftig, leidenschaftlich, technisch aber leider nur durchschnittlich begabt), für den von Beckenbauer oftmals geschmähten "Rumpelfüßler" also, ist der Ball ein ewiger Angstgegner - er springt vom Fuß, und er fliegt immer wieder genau dorthin, wo man ihn nicht haben will.

Für den so genannten brasilianischen Fußballer wiederum ist der Ball das Liebesobjekt schlechthin. Hat man ihn, vergisst man erst einmal die anderen 21 Akteure auf dem Platz und beginnt den öffentlichen Liebesakt mit dem Ball, mit allen dazu gehörenden Zärtlichkeiten: dem Dribbling, dem Slalom, dem Übersteiger, einfach oder mehrfach. Mit dem Traum- und Zauberpass oder dem Torschuss in den Winkel.

In Franz Beckenbauers Fußballkunst gab es kein teutonisches Rumpeln, aber eben auch nicht die brasilianischen Zaubereien und Räusche. Er ist der vielleicht erste Fußballer, der das klassische Paar "Genie und Wahnsinn" ausgewechselt hat gegen das Tandem "Genie und Ökonomie". Niemals hat er uns seine Virtuosität stolz und eitel vorgeführt, er hat sie einfach zu seinen Zwecken benutzt.

Er war ein deutscher Schönspieler, der alle deutschen Ressentiments gegen den Schönspieler lässig vernichtete, weil er das Schöne fast immer mit dem Nützlichen und Sinnvollen verband. Er war der rare Fall eines Genies, das den Absturz ins Bodenlose nicht fürchtet. Das immer von Hochmut und Heiterkeit geschützt zu sein schien und also immer in Sicherheit war vor der Umnachtung.

Der Ball ist kein Feind, der Ball ist kein Lustobjekt. Der Ball ist der Ball, und wenn man ihn hat, dann muss er auch wieder weg - und je schneller, desto besser. Das klingt schlicht, aber so, wie man die größten Dichter oft an den einfachsten Sätzen erkennt, so hat Beckenbauer oftmals bewiesen, dass die einfachsten Spielzüge die schönsten sind.

Man muss sie bloß sehen! Das geht aber nur, wenn man beim Spielen nicht verängstigt zum Ball und auf den Boden schaut, sondern furchtlos hinausblickt. Fußball ist ein weites Feld.

Das Leben der Großen, eine reine Freude ist es nicht. Ja, oftmals ist es eine Angstpartie. Manchmal dauert es nur eine Sekunde, wie im WM- Endspiel 2002, um aus einem Torwart-Titanen einen Winzling zu machen,

Beckenbauer ist auch hier die Ausnahme gewesen. Er musste nicht schuften, um an die Spitze zu kommen, er war sofort dort. Er hat auch niemals den nagenden Ehrgeiz und die lodernde Eifersucht eines Konkurrenten spüren müssen, weil es einen solchen Rivalen für ihn gar nicht gab.

So war er vor den üblichen Versagens- und Absturzängsten des Angestelltenlebens und Kunstbetriebs zuverlässig geschützt - was seinem ohnehin leichtfüßigen Spiel wohl noch mehr Leichtigkeit gegeben hat.

Längst betrachten die Deutschen ihren Beckenbauer mit den Augen des Verliebten: Wir sehen nur, was wir sehen wollen, und wir vergessen schnell alles, was nicht zur Legende passt.

Was immer also Beckenbauer tut, wir finden es gut. Natürlich war er auch als Trainer, als Teamchef der Größte. Dass die Mannschaft, mit der er 1986 Vizeweltmeister wurde, einen eher hässlichen Fußball gespielt hat und die Mannschaft, die 1990 Weltmeister wurde, keinen besonders schönen? Fast vergessen - und vergeben sowieso.

Auch Beckenbauer als Präsident und Übervater des FC Bayern sowie Beckenbauer als heldenhafter Eroberer und begnadeter Organisator der WM 2006 sind längst Figuren der Supermannsaga geworden.

Der nächste Satz ist immer der schwerste.

Dass es in seiner Rolle als Fußballexperte ein seltsames Zusammenspiel gibt zwischen tiefer Weisheit und kurioser Wirrnis, es nimmt ihm niemand übel. Denn es ist ja auch eine Freude, ihn mal als Sterblichen zu sehen: Der nächste Satz ist immer der schwerste.

Die groteske Fülle seiner Werbeauftritte, von seinen Jünglingsjahren ("Kraft in den Teller, Knorr auf den Tisch!") bis zum heutigen Tag, mit Handy, Hund und Weißbier - man empfindet sie nicht als Plage, sondern als kindlich-absurde Komödie. Weil Beckenbauer für nahezu alles wirbt, wirbt er genaugenommen für gar nichts. Nur für den eigenen Mythos.

Und schließlich: die Liebe. Dass er auf diesem, dem heikelsten Spielfeld oftmals ein wenig die Übersicht verlor, nicht einmal das geriet ihm zum Nachteil. Weil wir ihm auch hier einige unvergessliche Augenblicke verdanken.

Sogar der Göttervater Zeus hat sich bekanntlich vor den Eifersuchtsattacken und -attentaten seiner strengen Gemahlin gefürchtet. Fußballgott Beckenbauer aber kommentierte seine späte sowie außereheliche Vaterschaft mit wahrhaft olympischer Eleganz: "So groß ist das Verbrechen auch nicht. Der liebe Gott freut sich über jedes Kind."

In einem Film von Christian Weisenborn, den die ARD am vergangenen Montag zeigte, erzählte der Fußballer auch von seiner Giesinger Jugend. "Völlig unbekümmert" seien sie gewesen, die Beckenbauer-Buben Walter und Franz: "Die Eltern haben uns laufen lassen". Und so hätten sie draußen gespielt und gespielt, "Fußball gespielt ohne Ende".

Nimmt man die Geschichte nicht wörtlich, sondern als Gleichnis, könnte man sagen: Es hat bis heute noch niemand den Spieler Beckenbauer vom Spielfeld geholt, nach Hause zurückgepfiffen. Franz Beckenbauer, ab morgen ein Sechziger, ist immer noch dort, wo wir alle gern wären: im Freien.

© SZ vom 10.9.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: